Zerteufelter Vers (German Edition)
Wohnung schweifte. Was sollte jetzt werden?
Absolute Stille. Nichts, aber auch gar nichts war zu hören. Es wirkte so still, dass sie sich selbst kaum traute, ein Geräusch zu verursachen. Je länger sie auf die weißen, kahlen Wände starrte, desto tiefer drang in ihr Bewusstsein, dass Kirt weggesperrt war. Und das, obwohl er sich doch mit Leichtigkeit hätte befreien können. Wo lag das Problem?! Gloria wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Alles drehte sich im Kreis. Alle Welten rasten durch ihre Gedanken, alles Wissen über Engel und den Tod, alles über das, was das Buch ihr verraten hatte und welches Schicksal sie erwarten würde. Und je mehr sich diese Gedanken in sie hineinbohrten, desto stiller wurde es in ihr drin.
Sie war allein und Gloria durchsickerte das Gefühl, in ihrem ganzen Leben noch nie so allein gewesen zu sein! Aufgewühlt ging sie durch die Wohnung – ins Wohnzimmer, in die Küche, ins Bad und zurück zum Schlafzimmer. Ihre Augen blieben an dem Abdruck auf dem Bettlaken hängen, wo Kirt gestern noch gelegen hatte. Er war weg! Erneut tigerte Gloria durch die Wohnung, wusste nicht, was sie tun sollte. Immer wieder hatte sie das Gefühl, als würden die Ereignisse sie auffressen. Ohne Kirt war jede Sekunde verschenkt!
Hass, Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit – alles schäumte in ihr auf und begrub ihre sonst so optimistische Einstellung. Alles raste gleichzeitig durch ihren Kopf: Die schönen Momente mit Kirt, Jansens Tod, die Gedichte des Buches – nur der große Unbekannte… Den hatte sie nicht bemerkt! Und Gloria fragte sich mittlerweile, ob sie ihn überhaupt hatte bemerken können?! Vielleicht war er genauso absonderlich, wie Kirt es sein konnte; er war sogar ganz bestimmt so abnormal! Die Wut über all das stieg in Gloria immer weiter. Niemand konnte ihr noch helfen. Denn die Polizei ließ Kirt nicht frei. Warum verdammt noch mal erschien er nicht einfach hier bei ihr?! Aber insgeheim durchschlich sie eine leise Vermutung…
Kirt erzählte ihr bereits, wie sehr er sich konzentrieren musste, um seine Erscheinung aufzugeben. Aber das konnte doch nicht alles sein! Er hatte Gloria die letzten sechs Wochen kein einziges Mal mehr aus den Augen gelassen. Hätte er nicht seine Gründe, wäre er wahrscheinlich längst abgehauen! Wieder schweifte Glorias Blick durch die Wohnung und sie ließ sich mit dem Rücken an der Wand nach unten auf den Fußboden rutschen. Tränen traten in ihre Augen. Sie wusste einfach keinen Rat mehr. Was sollte sie bloß unternehmen? Gloria umfasste ihre Knie und machte sich so klein, dass sie selbst kaum noch auffiel – in der so gänzlich verlassenen Wohnung.
Kirt hingegen lag mit dem Rücken auf einem Bett und starrte an die Decke; die Decke irgendeiner Zelle – irgendeines Gefängnisses! Hier hatte man ihn zunächst hin verfrachtet; U-Haft, aber wie lange? – Das konnte Monate dauern, wenn nicht sogar Jahre, falls aus der Untersuchungshaft die echte Haft würde – verurteilt des Mordes an Jansen. Kirts Blick schien stillzustehen. Er bewegte sich keinen Millimeter und hätte Gloria ihn beobachten können, wäre sie nicht sicher gewesen, ob er nur monoton an die Decke starrte oder in Wahrheit versuchte, sich auf die Grenzen seiner menschlichen Gestalt zu konzentrieren. Kirt lag völlig regungslos da – die Zelle klein und erdrückend: Ein Bett, ein Waschbecken, ein Klo, ein Regal; Gitterstäbe vor dem Fenster. So unwirklich Gloria alle Geschehnisse vorkamen, so erstickend heftig presste einen die Enge der Gefängniszelle in die Realität: Ein Toter, ein Verdächtigter und unzählig viele Fragen! Genau das spürte auch Kirt, als man ihn an diesem Abend abholen und in einen Verhörraum führen ließ…
Zwei Polizisten, in zivil gekleidet, warteten bereits auf ihn und Kirt bekam eine leise Ahnung davon, wie viel Zeit er in diesem Raum noch verbringen würde! Der Polizist wies Kirt an, auf dem freien Stuhl Platz zu nehmen. Der Raum war kalt und dunkel. Er entsprach ganz dem Klischee polizeilicher Verhörräume. Kirt sah unbeeindruckt in die Augen des Mannes vor ihm. Er schätzte ihn auf Mitte fünfzig, der andere Kollege wirkte wesentlich jünger; als der Ältere plötzlich das Wort ergriff:
»Sie beharren darauf, unschuldig zu sein, Herr la Ronti…« Die Stimme des Mannes klang abgeklärt. »Ja.« »Dann können Sie uns sicher einige Fragen ganz einfach erklären…?« Der Mann stand auf, holte das Foto, das Kirt bereits kannte, und legte es auf den Tisch.
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