Zerteufelter Vers (German Edition)
Bad war ein echter Traum. Gloria sprang schnurstracks unter die Dusche. In ein großes Badetuch gehüllt, machte sie es sich auf dem Bett bequem. Geschafft! Sie war in einer fremden Stadt und konnte tun und lassen, was sie wollte.
Kurzerhand griff sie nach ihrem Rucksack, als ihr Blick wieder auf das Buch fiel. Es wirkte sonderbar! Gloria zog es heraus und begann erneut, darin zu blättern. Die Schrift bestand aus in sich verwachsenen Buchstaben – Schlingen und Zeichen. Eines schien klar: Dies war keine Sprache. Was auch immer es sein sollte, wer auch immer diese Seiten geschrieben hatte – er wollte damit nichts überliefern. Welcher Sinn ging mit einem Buch aber sonst einher? Enttäuscht klappte sie es zu. Gloria betrachtete das metallene Siegel, in dem zwei Ranken eingraviert waren. Sie strich mit den Fingerkuppen darüber. Das gesamte Buch wirkte altertümlich. Gloria starrte auf das Wappen. Zu gern hätte sie gewusst, welche Bedeutung es besaß.
Gloria war gerade im Begriff, das Buch beiseite zu legen, als sie aus den Augenwinkeln eine Art Gleiten wahrnahm. Ihr Blick fiel erneut auf das Siegel, das nicht länger eine Ranke, sondern ein verziertes ‹G› formte, das in ein ‹T› floss! Wäre sie nicht felsenfest davon überzeugt gewesen, dass ausschließlich Verzierungen die Buchvorderseite geprägt hatten, hätte sie eins zu hundert gewettet, dass die beiden Buchstaben ‹M› und ‹V› ganz unten rechts auch noch nicht dort gestanden hatten! Mit klopfendem Herz schlug sie den Deckel auf und sah auf die erste Seite. Hier stand ein Text! – Auf deutsch – mit der Überschrift »Einst«.
Einst
Einst fiel ein Engel hinab in die Tiefen der Meere. Seine Trauer war größer als die Finsternis der Schatten, die sich fortan über ihn legten. Und seine Tränen der Verbitterung durchspülten Täler und Felder, Wiesen und Dörfer. Gefangen in seiner eigenen Schmach begrub er sein ewiges Geheimnis zum Schutze derer, die wahrhaft selbstlos sind!
Gloria runzelte die Stirn und blätterte die Seite um, doch auf den darauf folgenden standen nur schwarze Schlangenlinien, wie Gloria sie schon zuvor angesehen hatte. Irritiert klappte sie das Buch zu. Das konnte doch unmöglich wahr sein! Wie hatte sie diesen Text zuvor nur übersehen können?
Das Buch war alt und seine Erscheinung wirkte einzigartig, umgeben von einer goldenen Aura. Wieder und wieder las Gloria den kurzen Abschnitt durch. Meistens besaßen solche Texte eine bildhafte Sprache, die zwar eine Moral in sich verbargen, jedoch nicht wahrheitsgetreu waren. Das hieß, einen solchen Engel gab es nicht, vielleicht aber einen guten Mensch, der etwas getan hatte, das er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte. Doch viel sonderbarer: Wie konnten sich um Himmels Willen die Verzierungen auf dem Buchdeckel verändern?! Und war der seltsame Text über jenen Engel vorher noch gar nicht lesbar gewesen?
Gloria lief es eiskalt den Rücken hinunter! Konnte es tatsächlich möglich sein, dass sich aus willkürlichen Linien lesbare Zeichen formten?! Gloria glaubte nicht an abnormale Geschehnisse! Schockiert schaltete sie das Licht aus; für heute würde sie keinen zweiten Blick in dieses Buch werfen. Und ehe Gloria noch lange nachdenken konnte, schlief sie schließlich ein.
3 Willkommen in der Realität
Mit einem Ruck öffnete Gloria die Augen und starrte an die Zimmerdecke. Der immer gleiche Alptraum von ihrer Mutter hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Gloria brauchte einen kleinen Moment, um in die Realität zurück zu gelangen. Sie befand sich in Düsseldorf – noch dazu in einem 4-Sterne-Hotel! Der Morgen begann mit strahlend schönem Wetter und einem Besuch der Bäckerei um die Ecke. Ihr erster Tag in Freiheit! Jetzt sollte es besser werden, da war sie sich sicher!
Heute würde sie zum ersten Mal wieder Spaß haben. Mit diesem Vorsatz ging sie durch die Altstadt. Hier herrschte ein Wirrwarr unterschiedlichster Menschen. Neben hektischen Büroleuten in feinen Anzügen liefen Punks mit zerrissenen Strumpfhosen durch die Einkaufspassage. Top gestylte Frauen in kurzen Röcken und hohen Schuhen telefonierten gestikulierend mit dem Handy und Familienväter schoben auf Inline-Skates ihren Sprössling im Kinderwagen vor sich her.
Gloria goss noch etwas Soja über ihren Reis und schob sich das letzte Stück Entenfleisch in den Mund. Der Mittagstisch war sehr günstig. – Genauso wie ihr Hotelschnäppchen. Wenn sie für die nächsten Nächte ebenso viel
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