Zerteufelter Vers (German Edition)
packten sie Verzweiflung und Angst. Sie hatte nicht versagt – aber er war tot! Gloria dachte an seine Ehefrau und die Kinder. Sie dachte an die Todesanzeige, die sie aufgeben würden mit der Frage nach dem Warum und noch nicht einmal sie – Gloria – konnte diese Frage beantworten.
Der Wind zerrte an Glorias T-Shirt und stach ihr in die tränenüberströmten Augen. Sie schaute zur Seite, wo Kirt langsam auf sie zukam. Er hatte es mit angesehen. Sein Arm ruhte auf dem Geländer der Brücke, das er mit den Fingern fest umschloss. Gloria hielt sich die Hände vor den Mund und konnte es nicht fassen. Er war einfach gesprungen. – Ohne Vorwarnung und ohne, dass man es hätte verhindern können. Schnell, unspektakulär – wie lange hatte es wohl gedauert?
Kirt kam zu ihr und nahm sie in den Arm, doch Gloria stand einfach nur da und weinte. Er zog sie sachte von der Mauer fort und ging mit ihr zurück zum Seitenstreifen, als sie sich plötzlich von ihm losriss und das Buch aus dem Rucksack holte. Kirts Augen fixierten es und sahen Gloria ernst an. »Was hast du vor?« Gloria schlug es auf. Sie war wütend, sie war traurig! Was würde dieses Teufelsbuch jetzt noch sagen?! Mit zittrigen Fingern suchte sie nach der richtigen Seite, als Kirt es ihr aus der Hand nahm. »Spinnst du eigentlich?«
Er holte sie in die Realität zurück. Das Buch in seinem Besitz zu sehen, gab Gloria plötzlich ein seltsames Gefühl. »Gib mir das Buch wieder!« »Wir verschwinden jetzt erst mal, verdammt!« Er drückte sie zurück bis zum Motorrad und stopfte das Buch in ihren Rucksack. »Was glaubst du eigentlich, wenn uns hier jemand sieht?!« Gloria verstand nicht, was er meinte und sah ihn fragend an. »Glaubst du, ich hab´ Bock mir einen Mord anhängen zu lassen? Was willst du denn der Polizei sagen? – Dass du Vorahnungen hast und deinen Opfern bis zum Tatort folgst?!« Kirt schaute sich um, als hätte er jemand Bestimmtes im Blick. Gloria wirkte so verwirrt, dass sie nicht begriff, weshalb Kirt derart schnell verschwinden wollte. Er drängte sie dazu, sich wieder auf sein Motorrad zu setzten, tat es Gloria nach und fuhr schnellstmöglich auf die Autobahn, um den Ort des Geschehens zu verlassen. Gleich bei der nächsten Ausfahrt fuhren sie ab und Kirt parkte an einer passenden Straßenecke. Hastig zog er seinen Helm vom Kopf.
»Hast du eigentlich in Zukunft noch öfter vor, solche Aktionen durchzuziehen?!« Gloria wusste nichts zu sagen. Sie wirkte schockiert. Obwohl beide damit gerechnet hatten, dass etwas Schreckliches geschehen konnte, schien die endgültige Tatsache, wie es passiert war, kaum begreifbar. Und auch Kirt wirkte außer sich. Es war dunkel und windig. Als seien sie festgewachsen, sahen sie sich an… und schwiegen.
Den gesamten Heimweg sprachen sie kein Wort miteinander. Wie ferngesteuert brachte Kirt sie zurück zum Baumhaus. Gloria hatte Angst, dass er sich gleich wie üblich von ihr verabschiedete. Er sah immer noch wütend aus wobei sie nicht glaubte, dass er wirklich sauer auf sie war. Sie stoppten an dem Seil, dessen untere Schlaufe träge im Wind hin und herschaukelte. Fassungslos stand er vor ihr und schaute sie an. Gloria wollte nicht allein sein, auf gar keinen Fall! Abertausende Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sollten sie die Polizei rufen? – Dann müssten sie jedoch auch erklären, wie sie von dem Tod wussten… Denn durch die Sichtmauer auf der Brücke hatte man Jansen nicht sehen können. Eigentlich war es ein großer Zufall, dass sie ihn gerade noch erspäht hatten, als er im Begriff war, vom Seitenstreifen zur Brücke zu laufen. Gloria blickte Kirt traurig an.
Die Unruhe in ihrem Inneren war kein Vergleich zu der Stille, die sie inmitten dieses Parks umgab. Kirt schien ähnlich aufgewühlt zu sein, doch beileibe wirkte er ruhiger als sie. Gloria schluckte und trat näher zu ihm. Er blieb ganz still vor ihr stehen und sah sie nur an. Sie umfasste zaghaft seine Finger und Kirt streichelte mit seinem Daumen über ihre Hand. Seine Augen leuchteten warm und gaben Gloria wieder das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Sie legte ihren Kopf an seine Brust und er umschloss ihren zierlichen Körper mit seinen Armen. Seine Wärme und sein Geruch waren wie Balsam für die Seele. Er streichelte ihr mit den Fingerspitzen über den Rücken und küsste Gloria aufs Haar.
Der Ausbruch aus ihrem Alltag in Weimar konnte gar nicht noch seltsamer werden. Das Buch war nicht normal, sie schien es nicht mehr zu sein.
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