Zerteufelter Vers (German Edition)
Schmetterlings? Seine Schönheit? Dies zumindest war der Grund, weshalb die Menschen ihn liebten. Seine Freunde jedoch lachten ihn aus, denn der Staub seiner Flügel zierte keine schönen Bilder mehr. Noch schlimmer – eine breite Kerbe teilte seinen linken Flügel nahezu in zwei Teile. Er war nicht mehr schön, das wusste der kleine Schmetterling. Und auch, wenn die anderen mit ihrem übertriebenen Spott nicht Recht behielten, schmerzte der Hohn dennoch sehr. Der Schmetterling suchte die Stille. Oft flog er allein von Flieder zu Flieder. Wo war also noch der Sinn?
Da traf er eine Biene. »Du siehst aber hässlich aus, Schmetterling.« Später traf er einen Marienkäfer, der sich genauso über ihn lustig machte. Der Schmetterling kam schließlich zu einem kleinen See und weinte. Seine Tränen purzelten auf die Wasseroberfläche. »Hey, was soll das? Spielst du dich hier als Regen auf?« Der Schmetterling begutachtete seinen gebrochenen Flügel im Wasser. »Ich bin so hässlich. Und was ist ein Schmetterling schon wert, wenn er nicht mehr in seiner ganzen Farbenpracht strahlt?« Der See sah ihn sich genau an. Aber er konnte nur erkennen, wie sich das Licht auf seiner Oberfläche brach und den Schmetterling in tausendfacher, wunderschöner Vielfalt zeigte. Die Farben verschwammen vor den Augen des Sees.
»Steht dir im Sinn, den anderen zu gefallen? Willst du nur eine Kopie ihresgleichen sein, um von ihnen geliebt zu werden?« Der Schmetterling erwiderte nichts. »So sage ich dir, du findest erst dann dich selbst, wenn du die Unterschiede zu den anderen deiner Art erkannt hast. Dann bist du einzigartig!« »Aber was bringt mir das, wenn mich dennoch keiner mag?« »Weil man nur liebt, was echt ist. Und erst, wenn du bist, wie du bist, gibst du dir eine Chance, nicht nur deine Schwächen, sondern auch deine Stärken kennen zu lernen.« »Aber was habe ich schon für besondere Stärken?« »Das wirst du herausfinden, wenn du dich das erste Mal wirklich ansiehst. Wann hast du zuletzt dein Spiegelbild betrachtet, ohne auf deinen Flügel zu achten?«
Der Schmetterling musterte sein Bild auf der Wasseroberfläche des Sees, aber so genau er auch hinsah, erkannte er trotzdem nichts Schönes. »Es geht nicht darum, schön oder hässlich zu sein. Wenn du genau überlegst, suchen sich alle Geschöpfe dieser Welten immer nur das Außergewöhnliche. Dass solche Außergewöhnlichen dazu stehen, wie sie sind, sich selbst treu bleiben und sagen, was sie denken, macht sie anders, lässt sie ‹wahr› werden. Und das beflügelt sie – auch wenn sie gar keine Flügel besitzen oder wie du – einen gebrochenen Flügel haben.«
Der Schmetterling verabschiedete sich von dem See und flog langsam durch die Wälder. Allmählich wurde es dunkel, als er plötzlich eine Fledermaus traf. »Du bist aber mutig, so ganz allein – als Schmetterling.« Da wurde ihm erst bewusst, welcher Gefahr er sich in der Dämmerung aussetzte. Er flog langsam weiter, als er einen Maulwurf traf. »Bist du allein auf weiter Reise? Du bist aber stark, wenn du niemanden brauchst, außer dir selbst.« Da flog der Schmetterling weiter – fern der Heimat, als er schließlich eine kleine Schnecke traf. »Ach, was hast du es gut – kannst so schnell durch die ganze Welt segeln. Ich bin nie aus diesem Wald herausgekommen!«
Da dachte der Schmetterling lange nach. Und er erinnerte sich daran, was ihm der See heute Morgen erzählte. Voll Zuversicht, hässlich sein zu dürfen, solange er ein Schmetterling war, der mutig sein und fliegen konnte, und der mit sich allein und im Reinen schien, flog er zurück in seine Heimat. Es ging nicht darum, schön zu sein. Es ging darum, sich selbst einzuräumen, hässlich sein zu dürfen. Damit wurde er ehrlich und würde akzeptieren, wie er war. Und er konnte so viel mehr, als er es noch in diesem Moment ahnte. Dies lehrte ihn dieser Tag, da die Geschöpfte seiner Reise ihn mit anderen Augen sahen. – Und er erkannte, dass er wahrhaft schön war!
Gloria schaute die Seiten mit der Geschichte verdutzt an. So etwas hätte sie tatsächlich nicht erwartet; ein Märchen. – Und noch dazu ein schönes, in dem niemand den Löffel abgab. Gloria musste grinsen. Immerhin hatte sich bis jetzt fast jeder Text um ein und dasselbe Thema gedreht; und das war der Tod. Umso entspannender schien es, mal etwas ganz anderes lesen zu dürfen.
Gloria dachte über den kleinen Schmetterling nach. Märchen waren meist simpel, aber es lag viel
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