Zeugin am Abgrund
Zehn Minuten lang war sie damit beschäftigt, zwischen jedem Vordringen in das Einschussloch Blut wegzuwischen und sich nicht zu übergeben. Als sie die Wunde schließlich gesäubert hatte, zog sie die Ränder ein wenig auseinander, was Sam mit einem erstickten Schmerzensschrei quittierte.
Sie versuchte etwas zu erkennen, konnte aber nichts sehen, was wie ein Kugel aussah. Sie wusste, dass diese herausgeholt werden musste, doch sie konnte unmöglich in der Wunde herumstochern. Die Gefahr war viel zu groß, dass sie ihm dadurch mehr schadete als half.
“Tut mir Leid, Sam, aber mehr kann ich nicht machen”, murmelte sie und verteilte eine großzügige Portion Jod rund um die Stelle, an der die Kugel in seinen Körper eingedrungen war.
Sam riss den Kopf hoch und schrie: “Jesus! … Was … was machst du da?”
“Es tut mir Leid! Es tut mir Leid”, rief Lauren. “Ich versuche nur deine Wunde zu versorgen. Bleib ganz ruhig liegen, bis ich fertig bin.”
Die Anweisung war unnötig. Als sie nämlich die Wunde abermals ein wenig öffnete und fast die halbe Tube der antibiotischen Salbe auftrug, wurde er wieder ohnmächtig. Lauren bedeckte die Wunde dick mit Gaze und drückte sie auf, damit sie nicht verrutschte.
Seufzend richtete sie sich auf. Erst jetzt, mit erheblicher Verzögerung, begann sie am ganzen Leib zu zittern. Sie legte die Arme um sich und schwankte leicht vor und zurück. “O Gott, lass ihn bitte nicht sterben”, flüsterte sie immer wieder. “Ich könnte das nicht ertragen.”
Ihr wurde bewusst, dass sein Tod nicht nur zu viel für sie gewesen wäre, weil er bei seiner Aufgabe, sie zu beschützen, verletzt worden war, sondern auch, weil die Vorstellung, ohne Sam zu leben, so sehr schmerzte, dass sie gar nicht erst daran denken wollte. So unwahrscheinlich und dumm es vielleicht sein mochte, hatte sie sich doch in diesen harten, schweigsamen und komplizierten Mann verliebt.
Lauren versuchte die Gefühle herunterzuspielen, indem sie sie insgeheim als kindisch und albern bezeichnete. Aber das änderte nichts daran, dass sie ihn zutiefst und unwiderruflich liebte.
Als das Zittern endlich nachließ und sie sich wieder unter Kontrolle hatte, seufzte sie leise und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Sie sah Sam mit seinem behelfsmäßigen weißen Verband an, der einen krassen Kontrast zu seiner braunen Haut darstellte. Sie kletterte vom Bett, zog Sam die Stiefel aus und legte die Bettdecke über ihn.
Ich habe getan, was ich konnte, dachte sie erschöpft. Jetzt konnte sie nur noch abwarten und darauf hoffen, dass er sich am Morgen besser fühlte.
Lauren zog sich aus, duschte rasch und legte sich dann zu Sam. Fast im selben Moment, in dem ihr Kopf auf das weiche Kissen sank, war sie eingeschlafen.
Stunden später wurde Lauren aus einem tiefen, erholsamen Schlaf gerissen.
“Was? Wer …?” Sie saß aufrecht im Bett und sah sich desorientiert um. Durch einen Spalt in den Vorhängen fiel ein wenig Mondlicht ins Zimmer, das genügte, um zu Sam zu sehen, der neben ihr lag. Im selben Moment kehrte die Erinnerung zurück, und dann wusste sie auch, was sie geweckt hatte. Sam stöhnte und drehte sich unruhig hin und her.
Sofort war Lauren hellwach. “Sam? Sam, ganz ruhig. Du machst alles nur noch schlimmer. Wenn du nicht ruhig liegen bleibst, fängt die Wunde wieder an zu bluten!”
Ebenso gut hätte sie mit der Wand reden können, da er sich unablässig von einer Seite auf die andere wälzte. Sie wollte eine Hand auf seinen Rücken legen, um ihn zu beruhigen, aber bei der ersten Berührung zuckte sie zurück. “O Gott, Sam, du glühst ja!”
Sie strich ihm die Haare aus dem Gesicht und zwinkerte, um ihre Tränen zurückzuhalten. “Verdammt, Sam Rawlins, komm nicht auf die Idee, mir wegzusterben. Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben. Hast du verstanden?”
Sam drehte den Kopf hin und her. “Lau…ren”, krächzte er plötzlich.
“Ja, ich bin hier, Sam. Was ist los?”
“Liebe … dich.”
Lauren stockte der Atem, sie riss die Augen weit auf. Ihr Herz schmerzte. Sie wollte es ihm so sehr glauben, und tatsächlich stieg einen Moment lang in ihr Hoffnung auf, doch dann verdrängte sie sie. Sei kein Idiot, ermahnte sie sich. Der Mann hat Fieber und liegt im Delirium. Er weiß nicht, was er redet.
Sam drehte sich um und stöhnte laut auf, während Lauren sich zusammenriss. Um Himmels willen, hör endlich auf, dich wie ein verliebter Teenager zu benehmen. Er braucht
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