Zeugin am Abgrund
zu klingen. Doch in ihrem Inneren fühlte sie sich so, als würde jemand versuchen, ihr Herz zu zerquetschen.
Einige Sekunden lang sah Sam sie auf seine eindringliche Weise an, dann zuckte er mit der unversehrten Schulter. “Es muss nicht sein.”
Was soll denn das nun wieder heißen? fragte sich Lauren. War er bereit, den Versuch einer Ehe zu wagen, wenn sie es war? Oder kümmerte es ihn nicht? Sie wusste nicht, ob sie sich beleidigt fühlen oder sich Hoffnungen machen sollte.
“Was ist mit Willow?”
“Was soll mit ihr sein?”
“Sie liebt dich.”
“Das glaubt sie vielleicht, aber nur, weil meine liebe Großmutter sie in diese Richtung dirigiert hat. Ich habe sie nie ermutigt.”
Lauren seufzte. “Es wird ihr trotzdem das Herz brechen.”
“Das tut mir auch Leid, doch sie wird darüber hinwegkommen. Sie ist noch jung.” Er wartete einen Moment lang. “Also? Heiraten wir oder nicht?”
“Ich …”
“So wie ich die Sache sehe, haben wir keine andere Wahl”, sagte er in leicht ungeduldigem Tonfall. “Auch wenn wir ein paar Tage hier bleiben könnten, bis es mir besser geht, garantiere ich dir, dass sich die Kerle sofort wieder auf uns stürzen, sobald wir das Reservat verlassen haben.”
“Glaubst du, sie wissen, dass wir hier sind?”
Sam zögerte. “Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Noch nicht, zumindest. Sie werden aber eins und eins zusammenzählen und misstrauisch werden. Bloß werden sie es nicht wagen, ohne Gerichtsbeschluss ins Reservat vorzudringen.”
“Wie kommst du darauf?”
“Das FBI hat in den letzten Jahren immer wieder für negative Schlagzeilen gesorgt, die für die nächste Zeit reichen. Man muss schon Beweise vorlegen, wenigstens aber sehr überzeugende Argumente, um einen Durchsuchungsbefehl für das Reservat zu bekommen. Kein Richter macht das, nur weil ein Agent irgendetwas im Gespür hat. Außerdem bezweifele ich, dass sie das überhaupt in Erwägung ziehen. Sie wissen genau, dass sie für ein Gebiet von dieser Größe praktisch eine Armee aufmarschieren lassen müssen, und das wird nicht passieren.”
“Wieso bist du so sicher?” fragte Lauren. “Wir sind eine Woche lang das Ziel einer groß angelegten Jagd gewesen. Warum sollten sie sich jetzt zurückziehen?”
“Aus mehreren Gründen. Erstens sind wir nicht länger in der Wildnis, wo sie keine lästigen Augenzeugen haben. Ich würde einiges darauf verwetten, dass jeder der Kerle, die sich die Absturzstelle angesehen haben, von Carlo bezahlt wurde. Darum hat der Anführer der Gruppe sie überhaupt erst ausgewählt. Es hätte ganz einfach laufen sollen. Sie fliegen hin und bestätigen, dass wir tot sind. Wenn wir leben, legen sie uns um, und niemand erfährt etwas. Da wir jetzt aber wieder unter Menschen sind, müssen sie vorsichtig sein.”
Lauren sah ihn nachdenklich an.
“Zweitens haben bislang nur die Agenten, die von Giovessi bezahlt werden, die Vorgesetzten mit falschen Informationen versorgt, damit sie diese Hetzjagd auf uns inszenieren können. Aber ich glaube, mein Freund Edward hat genug Einfluss, um dem ein Ende zu setzen. Er hat diesen Vorgesetzten persönlich garantiert, dass ich dich zu Beginn des Verfahrens im Gerichtssaal präsentiere.”
“Ich hoffe, dass du Recht hast”, sagte Lauren, klang aber nicht überzeugt.
“Ich würde dich nicht belügen, Baby. Giovessis Leute werden ebenfalls nach dir suchen, darauf kannst du dich verlassen. Sie haben ja gar keine Wahl. Wenn sie uns nicht zum Schweigen bringen, wandern sie ins Gefängnis. Aber da Edward jetzt für uns bürgt, können sie nicht mehr auf die volle Unterstützung ihrer Verbindungsleute beim FBI zählen. Du siehst also, wenn wir heiraten, dann können wir hier untertauchen, bis der Prozess beginnt.”
Lauren sah Sam an, während sie sich innerlich zerrissen fühlte.
Sie kannten sich zwar erst seit kurzem, aber sie und Sam hatten in dieser Zeit Erlebnisse und Erfahrungen von einer solchen Eindringlichkeit geteilt, wie sie viele Menschen in ihrem ganzen Leben nicht haben. Wenn die höfliche Fassade der Zivilisation nicht mehr da war, konnte man in einer Woche mehr über einen Menschen erfahren als sonst in einem ganzen Jahr.
Ja, Sam war hart und wortkarg. Ein distanzierter Einzelgänger, der seine Gedanken für sich behielt und seine Emotionen niemandem zeigte. Sie vermutete, dass es die Folge eines Lebens zwischen zwei Kulturen war, des Gefühls, von keiner Seite jemals ganz akzeptiert zu werden und nie sicher zu sein,
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