Zeugin am Abgrund
aber wichtiger ist für mich, dass du glücklich bist. Mein ganzes Leben habe ich dich dabei beobachtet, wie du versuchst, deinen Platz im Leben zu finden. Du schwankst immer zwischen dieser und der Welt deines Vater, ohne zu wissen, wohin du gehörst. Was ist? Hast du geglaubt, ich würde das nicht merken? Denkst du, ich bin blind?” fragte sie, als sie seinen beunruhigten Blick sah.
“Du hast nie etwas gesagt.”
“Es stand mir nicht zu. Du musstest selbst entscheiden, in welche Welt dein Geist wirklich gehört.” Annie seufzte schwer. “Es ist längst Zeit, dass du dir eine Frau nimmst, mein Enkel. Aber ich wusste immer, dass du das so lange nicht machen würdest, wie du deinen Platz noch nicht gefunden hattest. Ich denke, Augustus wusste das auch.” Sie sah kurz zu Lauren, dann lächelte sie Sam an. “Ich glaube, es ist jetzt so weit.”
Er sah seine Großmutter an und war erstaunt, sie so breit lächeln zu sehen. “Es macht dir nichts aus?”
“Nein, es macht mir nichts aus.” Sie tätschelte seine Hand. “Wahrscheinlich ist es so am besten. Die Unterschiede zwischen unseren beiden Welten sind heute wohl nicht mehr so groß wie zu der Zeit, als deine Eltern sich begegneten. Unser Volk nimmt vom weißen Mann immer mehr Gewohnheiten an. Es macht mich traurig, aber was soll eine alte Frau daran schon ändern? Es gibt natürlich immer noch Unterschiede, sehr wichtige sogar, die sich nie ändern werden. Das waren die Dinge, die die Ehe deiner Eltern zerstört haben.”
Sie sah ihn lange an, dann fuhr sie fort: “Dein Vater ist ein guter Mensch. Er hat meine Tochter sehr geliebt, und sie hat ihn geliebt. Aber nicht einmal eine so starke Liebe hat gereicht, um ihren Wunsch verschwinden zu lassen, bei ihrem eigenen Volk zu sein. Ich möchte nicht, dass dir so etwas auch passiert. Wenn dein Geist in der Welt des weißen Mannes zu Hause ist, dann soll es auch so sein.” Wieder tätschelte sie seine Hand und lächelte ihn an. “Ganz egal, wie du dich entscheidest, du wirst immer mein Enkel sein. Und solange die Sonne aufgeht, bist du mit deiner Frau hier willkommen.”
Sam starrte sie an und war so gerührt, dass er den Schmerz in seiner Schulter vergaß. Er wusste, dass dieses Gespräch einen gewaltigen Wendepunkt darstellte. Und er wusste, dass das, was er als Nächstes sagen würde, seinem Leben eine völlig neue Richtung geben und seine Beziehung zu den Menschen, die hier lebten, für alle Zeit verändern würde. Ein Teil von ihm wollte alles zurücknehmen, er wollte sagen, dass er es sich noch einmal überlegt habe und am Vertrauten festhalten wolle. Aber sein Herz sagte ihm, dass seine Großmutter Recht hatte. Er musste eine Entscheidung treffen.
“Du bist eine weise Frau, Grandma”, sagte er leise.
Sie nickte. Er war nicht sicher, ob er in ihren Augen einen Anflug von Traurigkeit sah, aber wenn es so war, dann liebte er sie noch mehr.
Annie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. “Ich werde jetzt gehen und alles in die Wege leiten.”
“Was ist los?” fragte Lauren, als Annie gegangen war. “Muss ich gehen?”
“Nein.”
“Oh, Gott sei Dank.” Lauren atmete erleichtert aus und drückte eine Hand auf ihre Brust. “Das ist gut. Was hast du gesagt, damit sie ihre Meinung ändert? Und was ist mit den anderen? Werden sie nichts dagegen haben?”
“Nein. In ein paar Tagen haben sie dafür keinen Grund mehr. Wir werden heiraten.”
18. KAPITEL
“W ir werden was?”
“Ich sagte: Wir werden heiraten.”
Lauren starrte Sam an. Er hatte es so sachlich gesagt, dass sie sicher war, sich verhört zu haben. Aber offenbar war das nicht der Fall.
Ihr stockte der Atem. Schock, Begeisterung, Hoffnung und eine Fülle anderer Gefühle stürmten auf sie ein und drohten sie zu überwältigen. “Du … du bittest mich, dich zu heiraten?”
“Es ist die beste Lösung. Ich bin nicht in der Verfassung, sofort wieder aufzubrechen, und ich glaube, Annie würde gar nicht zulassen, dass ich es überhaupt erst versuche. Und dich werde ich natürlich auch nirgendwohin ziehen lassen. Wenn du meine Frau bist, kann sich niemand beklagen. Und es wird auch niemand auf die Idee kommen, uns bei den Behörden zu melden. Die Navajo beschützen ihre eigenen Leute. Auf jeden Fall ist das hier das sicherste Versteck bis zum Verfahren.”
“Verstehe. Dann … dann hast du nicht vor, dass es eine dauerhafte Ehe wird?” Sie bemühte sich, einen neutralen Ausdruck zu bewahren und lediglich neugierig
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