Zeugin am Abgrund
zurückgegangen.”
Sam schob ihre Hand weg, ließ sie aber nicht los. “Entspann dich endlich. Ich sage doch, dass es mir gut geht.”
Er sah sie eindringlich an, sein Blick wanderte über ihr blasses Gesicht, über ihren zarten Mund, der so einladend war. “Jeden Tag erstaunst du mich ein bisschen mehr”, sagte er leise. “Vom ersten Tag an.”
Lauren kicherte verlegen. “Jetzt weiß ich, dass du immer noch Fieber hast.”
“Ich meine es ernst. Dein Leben lang hat man dich in Watte gepackt, und trotzdem stellst du dich allem, was das Schicksal dir in den Weg schmeißt. Du packst jedes Problem an, du stellst dich jedem Hindernis. Ich bin noch nie einer Frau begegnet, die so viel Schneid und Entschlossenheit vorweisen kann.” Ein wehmütiges Lächeln umspielte seinen Mund. “Selbst als ich noch dachte, du wärst Carlos Geliebte, hat deine Stärke mich in Erstaunen versetzt.”
Sie errötete ein wenig und sah nach unten auf ihre Hände. “Lob mich nicht zu viel. Ich hatte ja kaum eine andere Wahl.”
“Natürlich hattest du die. Man hat immer eine Wahl. Hör mir zu, Lauren.” Sam schob seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und drückte ihren Kopf nach oben, damit sie ihn wieder ansah. “Du bist eine ganz außergewöhnliche Frau.”
“Sam, ich …”
“Und wer genau ist diese ganz außergewöhnliche Frau, die du auf unser Land mitgebracht hast?” fragte eine seltsam kühle Stimme.
Lauren erschrak und drehte sich um. In der Türöffnung stand eine mollige grauhaarige Indianerin. Ihr braunes, faltiges Gesicht war so hart wie die Sandsteinformationen, die die Landschaft um sie herum dominierten.
Sam richtete den Blick bemerkenswert gelassen auf die alte Frau. “Hallo, Grandma. Freut mich auch, dich wieder zu sehen. Dies ist Lauren Brownley. Lauren, der kleine Wirbelwind ist meine Großmutter Annie Zah.”
Lauren machte den Mund auf, um die Frau zu begrüßen, aber noch bevor sie ein Wort sagen konnte, wechselte Annie Zah in die Sprache der Navajo und redete auf Sam ein.
“Sprich nicht so mit mir, Junge. Über ein Jahr ist es her, dass du zum letzten Mal deine Familie besucht hast. Und jetzt tauchst du mitten in der Nacht auf und bist auch noch angeschossen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, stößt du uns alle auch noch vor den Kopf, indem du diese weiße Frau mitbringst. Du weißt, dass sich nur unser Volk hier aufhalten darf.”
“Es tut mir Leid, Grandma, aber es ging nicht anders”, erwiderte Sam ebenfalls in der Navajo-Sprache. “Lauren ist Zeugin in einem wichtigen Fall, und ich habe den Auftrag, sie zu beschützen. Da sind Leute in der Welt des weißen Mannes unterwegs, die versuchen, uns umzubringen. Wenn Lauren nicht gewesen wäre, hätten sie es letzte Nacht geschafft. Sie hat mir das Leben gerettet.”
Annie machte einen überraschten Eindruck. Hatte sie Lauren bislang kaum eines Blicks gewürdigt, sah sie sie jetzt fast umso eindringlicher an. Als sie sich wieder Sam zuwandte, schüttelte sie trotzdem den Kopf. “Dafür bin ich ihr dankbar, aber es ändert nichts. Sie muss gehen, bevor andere erfahren, dass sie hier ist.”
Verwirrt und neugierig sah Lauren zwischen Sam und Annie hin und her, die weiter in ihrer Muttersprache redeten und ihr keine Beachtung schenkten.
“Wenn sie geht, dann gehe ich auch.”
“Sei kein Narr, Enkel. Ich habe mit Dr. Sani gesprochen. Du bist nicht in der Lage, irgendwohin zu gehen. Du musst bleiben und dich ausruhen, damit dein Körper heilen kann.”
Sam wandte den Blick nicht von der Frau ab. “Nicht ohne Lauren.”
“Sie kann nicht bleiben.”
“Doch. Wenn sie meine Frau wird.”
Annie riss die Augen auf. Sie sah Lauren auf einmal interessiert an. “Die Frau bedeutet dir so viel?”
“Ja.”
Er rechnete mit Widerworten und machte sich darauf gefasst, aber zu seiner Überraschung nickte seine Großmutter nur. “Ich werde alles arrangieren.”
Sam kniff die Augen ein wenig zusammen. “Das ist alles? Kein Protest?”
“Warum sollte ich protestieren?”
“Ich dachte, du wolltest, dass ich eine Navajo-Frau heirate. Willow Sani, um es ganz genau zu sagen. Du hast sie auf mich gehetzt, seit sie vierzehn war.”
″Ich habe sie nur auf deinen Pfad gelenkt, damit du sie wahrnimmst”, erklärte Annie mit der Würde einer Matriarchin. Sie durchquerte den Raum und setzte sich zu Sam ans Bett, dann nahm sie seine Hand. “Ich gestehe ein, dass ich nichts dagegen hätte, wenn du dir eine Frau aus unserem Volk nehmen würdest,
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