Ziel erfasst
gezuckerte süße Tee, den die Russen so sehr mögen. Er war kein athletischer Typ, er war dünn, und seine Haare waren für einen Mann seines Alters etwas lang. Eine Haartolle fiel ihm immer wieder in die Augen. Er hatte die Lüftungsschlitze seines BMWs so eingestellt, dass sie ihm die Haare beim Fahren aus der Stirn bliesen.
Er hatte keine Anweisungen, nach Wolgograd hineinzufahren. Er fand das schade, weil er die Stadt wirklich mochte. Immerhin war sie das frühere Stalingrad, was sie für ihn umso interessanter machte. Im Zweiten Weltkrieg hatten die Russen in Stalingrad gegen die Deutschen erfolgreich Widerstand geleistet und die unglaublichste Abwehrschlacht gegen eine mächtige Invasionsarmee in der gesamten Kriegsgeschichte geschlagen.
Georgij Safronow hatte ein persönliches Interesse an allem, was mit Widerstand zu tun hatte, obwohl er dieses Interesse für sich behielt.
Er schaute auf die GPS-Karte auf der Mittelkonsole des gut ausgestatteten Roadsters. Etwas weiter südlich lag der Flughafen. Er würde die M6 in einigen Minuten verlassen und anschließend der zuvor eingegebenen Route zu dem konspirativen Treffpunkt direkt außerhalb des Flughafengeländes folgen.
Er wusste, dass er auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen durfte. Deshalb war er allein gekommen und hatte seine Leibwächter in Moskau zurückgelassen. Er hatte ihnen erzählt, dass er etwas ganz Persönliches zu erledigen hätte. Seine Sicherheitsleute waren keine Russen, sondern Finnen und überdies große Hurenböcke. Georgij nutzte also ihre diesbezüglichen Fantasien aus und deutete an, dass er sich hier heimlich mit einer Frau treffen würde.
Nach dem Treffen wollte Safronow sich in der Innenstadt von Wolgograd ein Hotel suchen. Er würde allein durch die Straßen der Stadt gehen und an die Schlacht von Stalingrad denken. Dies würde ihm neue Stärke geben.
Aber er war vorschnell. Vielleicht wollte der Mann, der ihn heute hierher eingeladen hatte, Suleiman Murschidow, dass er danach den konspirativen Treffpunkt sofort verließ und mit ihm nach Machatschkala flog. Murschidow würde Georgij seinen Willen mitteilen, und Georgij würde auf ihn hören.
Eigentlich war Georgij Safronow nicht sein richtiger Name, da seine echten Eltern ihn nicht Georgij genannt hatten und sie selbst auch nicht Safronow hießen. Trotzdem war das sein Name gewesen, solange er zurückdenken konnte. Solange er zurückdenken konnte, hatte ihm jeder in seiner Umgebung auch erzählt, dass er Russe sei.
Tief im Herzen hatte er jedoch wohl schon immer gewusst, dass sein Name und seine Herkunft Lügen waren.
In Wahrheit wurde er im Jahr 1966 als Magomed Sagikow im dagestanischen Derben geboren, als Dagestan noch eine abgelegene und fügsame bergige Küstenregion der Sowjetunion war. Seine Eltern waren Bergbauern, die jedoch kurz nach seiner Geburt nach Machatschkala am Kaspischen Meer gezogen waren. Dort starben die Mutter und der Vater des kleinen Magomed innerhalb eines Jahres an einer Krankheit, und ihr Kind kam in ein Waisenhaus. Ein junger russischer Marinekapitän aus Moskau namens Michail Safronow und seine Frau Marina wählten dann den Kleinen als Adoptivkind aus, weil Marina Safronowa Magomed wegen seiner gemischten lesgisch-asarischen Herkunft den anderen Waisenkindern seines Alters vorzog, die reinblütige Asaris waren.
Sie nannten ihren Adoptivsohn Georgij.
Kapitän Safronow war als Mitglied der Kaspischen Flottille in Dagestan stationiert, wurde jedoch bald zur Schwarzmeerflotte befördert und nach Sewastopol versetzt. Kurz darauf wurde er auf die Marschall-Gretschko-Seekriegsakademie in Leningrad geschickt. In den nächsten fünfzehn Jahren wuchs Georgij in Sewastopol (wo sein Vater nach seinem Studium wieder in der Schwarzmeerflotte diente) und Moskau auf (wo sein Vater im Büro des Kommandeurs der Sowjetmarine tätig war).
Safronows Adoptiveltern verhehlten ihm nie, dass sie ihn adoptiert hatten, behaupteten jedoch, er stamme aus einem Waisenhaus in Moskau. Seine wahren Wurzeln enthüllten sie ihm nie, schon gar nicht, dass seine Eltern Muslime waren.
Der kleine Safronow war ein blitzgescheiter Kerl, er war jedoch klein, schwach und völlig unsportlich. Trotzdem, oder wahrscheinlich gerade deswegen, war er ein ausgezeichneter Schüler. Bereits als ganz kleiner Junge faszinierten ihn die sowjetischen Kosmonauten. Später entwickelte er eine kindliche Begeisterung für Raketen, Satelliten und den Weltraum. Nach seinem brillanten Schulabschluss
Weitere Kostenlose Bücher