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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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Bewohner bestimmen (Mahlzeiten, Freizeitaktivitäten, Fahrten etc.).
    Zum Leben eines Freiwilligen bei der Arche und bei Simon de Cyrène gehört die Akzeptanz der Verschiedenheit. Es ist geprägt von unerwarteten Begegnungen, die uns aufwühlen und verwandeln.
    Manchmal wird man sich während des freiwilligen sozialen Jahrs klarer über die Erwartungen, die man an sein Leben stellt, und orientiert sich eventuell neu. Clarisse zum Beispiel hatte vor, Design zu studieren, wollte sich zuvor jedoch ein Jahr lang sozial engagieren. Sie verbrachte probehalber eine Woche in einer Arche-Gemeinschaft, ehe sie sich entschied, das FSJ bei geistig behinderten Menschen zu absolvieren. Anschließend überdachte sie ihren Berufswunsch.
     
Ich habe diese Erfahrung mit behinderten Menschen bei Simon de Cyrène fortgesetzt. In unserer heutigen Zeit, in der jeder nur an sich denkt, habe ich eine Wahl getroffen, die hohe Anforderungen stellt. Bei dieser Arbeit wird man gezwungen, das Wertvollste zu geben, was man hat: Zeit und Freundlichkeit.
     
    Für Clarisse stehen die Neuorientierung und die Entscheidung für einen sozialen Beruf zur Debatte, doch die meisten Helferinnen und Helfer wenden sich nach dem freiwilligen sozialen Jahr wieder ihrem ursprünglichen Berufswunsch zu. Dennoch ist es keine verlorene Zeit. Laurent de Cherisey ist fest davon überzeugt, dass eine solche Erfahrung ganz allgemein eine enorme Bereicherung für ihr weiteres Leben darstellt.
     
Den jungen Menschen, mit denen ich über das freiwillige soziale Jahr spreche, schlage ich vor, hier ihr »Diplom des Herzens« abzulegen. Zu geben, aber auch zu nehmen. Zu entdecken, dass das Leben nicht mit Effizienz oder Leistung gleichzusetzen ist, sondern dass es erst in einfachen und wahren Beziehungen seinen Sinn bekommt.
Am Ende bekommt man zwar keine schöne Urkunde, die man sich einrahmen und an die Wand hängen kann, aber dafür viel mehr als das. Die Fähigkeiten, die man im Umgang mit den Schwächsten erworben hat, sind auf vielerlei Ebenen in Beruf und Privatleben von großem Nutzen.
     
    Das Hauptanliegen der Arche und des Vereins Simon de Cyrène ist es, sich um Menschen mit Behinderung zu kümmern und eine echte Beziehung zu ihnen aufzubauen. Dennoch werden auch die Helfer nicht vernachlässigt. Nach den ersten paar Tagen werden sie immer gefragt, ob sie glücklich sind. Wenn sie mit Ja antworten, bietet man ihnen an, länger zu bleiben – eine Woche, einen Monat, ein Jahr. Manche, die nur für zwei Wochen gekommen waren, sind zwei Jahre geblieben. Bei anderen war es genau umgekehrt. Doch jedes Mal wurde ihnen diese Frage gestellt: »Sind Sie glücklich?«
    Wer sich für andere engagiert, schränkt sich deswegen nicht ein, im Gegenteil! Engagement eröffnet neue Horizonte, es bietet Raum für eine tiefe Wandlung.
     
    Wir laden Sie ein, diese Wandlung gemeinsam zu erleben, und überlassen Philippe Pozzo di Borgo das Schlusswort:
     
Ich möchte gern wieder unversehrt sein, wieder gehen können, mich wieder bewegen, meine Kinder in den Arm nehmen können, aufhören zu leiden. Doch obwohl ich mir das von Herzen wünsche, sehe ich keinen Nutzen darin, wieder die Kontrolle über meinen Körper zu erlangen, wenn ich nicht gleichzeitig von allem profitiere, was ich durch die Behinderung gelernt habe. Es hat keinen Zweck, sich wieder in den wahnsinnigen Wettlauf zu stürzen, um den gesellschaftlichen Normen zu entsprechen, das ist ein von vornherein verlorener Kampf. Am Ende holt die Verletzlichkeit einen doch immer irgendwie ein. Das schließe ich aus all den Briefen, die ich seit der Veröffentlichung meiner Autobiographie bekomme. Beinahe die Hälfte von ihnen stammt von Menschen, die gesund sind, sich aber dennoch furchtbar unwohl fühlen und die Welt nicht verstehen. Heute lebe ich intensiver und sehe klarer als früher. Damit ich den Sinn des Lebens ganz verstehe, musste ich im Rollstuhl landen und die Welt aus der Perspektive eines Behinderten sehen.
Ich würde mir tatsächlich wünschen, wieder unversehrt zu sein, aber nur unter der Bedingung, den neuen Blick auf das Leben zu behalten.
Warten Sie nicht, bis Sie unberührbar geworden sind, um das Glück wieder in Ihrem Leben zuzulassen.

 
    ANHANG
     
    Wenn Sie weiter gehen möchten

WEITERFÜHRENDE LITERATUR
     
     
    Philippe Pozzo di Borgo
    Ziemlich beste Freunde, Berlin 2012.
     
    Jean Vanier
    In Gemeinschaft leben. Meine Erfahrungen, Freiburg u. a. 1993.
     
    Toute personne est une histoire sacrée,

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