Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Höllenlärm veranstaltet hatte. In dieser Stille fand ich wieder zu mir. Ich stellte mir die richtigen Fragen. War meine Getriebenheit berechtigt? Die Stille lehrte mich, dass meine Persönlichkeit weniger glatt war, als ich bisher dachte. Lange Zeit hatte ich unstillbare Gelüste gehabt, ich war darauf abgerichtet, die ganze Erde zu verschlingen. In der Firma trug ich den Spitznamen »der Bulldozer«. Nun fand ich heraus, dass ich verletzlich war und ganz anders als angenommen. In der Stille nahm ich jedes Detail wahr, jeden Ton, jede Bewegung. In diese Tiefe versenkte ich mich und schöpfte daraus einen ungeahnten Reichtum.
Wenn man die Stille zulässt, vermag man wahrzunehmen, was man sich im tiefsten Herzen wünscht. Die Konfrontation mit den eigenen Wünschen löst oft unerträgliche Ängste aus. Und wir versuchen dieses real existierende seelische Leiden, so gut es geht, mit hektischer Betriebsamkeit zu übertönen. Behinderte Menschen sind wie alle anderen geneigt, sich der Diktatur des von Philippe Pozzo di Borgo erwähnten »Höllenlärms« zu unterwerfen.
Doch wie Jean de La Fontaine einmal bemerkte: »Sich selbst erkennen ist das oberste Gebot.« Frankreich gehört zu den Ländern mit dem höchsten Verbrauch an Psychopharmaka. 22 Es mag sein, dass man Medikamente nehmen muss, um seelisches Leid zu lindern, doch sie können nicht die einzige Antwort auf Angstzustände sein.
Seltsamerweise kann man sich sogar mit Musik – diesem wunderbaren Raum menschlicher Verbundenheit – betäuben und so der Konfrontation mit sich aus dem Weg gehen. In seiner Biographie berichtet Abdel Sellou, er habe sich selbst im Gefängnis, wo die Tage lang sind und gut zum Nachdenken geeignet, lieber vor den Fernseher gesetzt, als Lehren aus seinen Erfahrungen zu ziehen.
Wir sollten also der Stille – einer Öffnung hin zur Verschiedenheit – in Beruf und Privatleben wieder Raum geben. Stille ist vor allem ein Geisteszustand, in dem wir, dadurch, dass wir unsere Unsicherheit und unsere Fragen akzeptieren, die eigene Einzigartigkeit genauso anerkennen wie die der anderen.
Denn wir sind alle einzigartig. Es gibt keine zwei Menschen mit denselben Fingerabdrücken oder demselben genetischen Code. Wir müssen die Unterschiede zwischen uns gelten lassen, anstatt sie durch eine kollektive Formatierung, aus der unangepasste oder nicht anpassungsfähige Menschen ausgeschlossen wären, zu tilgen. Aus unserer Einzigartigkeit kann Einheit entstehen – die Einheit einer wohlwollenden Gesellschaft, in der wir wieder Erfüllung finden.
»Man versteht überhaupt nichts von unserer heutigen Zivilisation, wenn man nicht von vornherein zugibt, daß sie eine Weltverschwörung gegen jedes innere Leben ist«, schrieb einmal der französische Autor Georges Bernanos. 23 Spirituelles Wachstum ist eine Illusion, solange wir unsere Sterblichkeit und Unvollkommenheit, die Grundbedingungen der menschlichen Existenz, nicht akzeptieren, genauso wie es unmöglich ist, ein ganzer Mensch zu sein, solange wir die Notwendigkeit der Spiritualität nicht anerkennen.
Jeder Mensch kann seinen spirituellen Weg frei wählen. Wir sprechen hier nicht von religiösem oder philosophischem Tourismus, bei dem man sich hier und da gedankenlos herauspickt, was man gerade gebrauchen kann, um seine inneren Ängste oberflächlich zu kurieren. Wir stellen uns die Spiritualität als notwendigen Halt vor, als Nährboden für die eigenen Fragen zur Realität und zu Sehnsüchten des Menschen. Auf dem Grunde seines Herzens, in der Innerlichkeit, im eigenen Mysterium entdeckt man das Andere .
Jean Vanier möchte in diesem Zusammenhang eine besonders aufschlussreiche Geschichte erzählen, die zeigt, welche Vorurteile über das Seelenleben geistig behinderter Menschen herrschen. Nicht bloß die Barriere der Ablehnung gilt es zu überwinden, sondern auch die der Unwissenheit.
Der geistig behinderte François hatte gerade seine Erstkommunion empfangen. Nach der kirchlichen Zeremonie nahm die Familie bei den Eltern des Jungen eine gemeinsame Mahlzeit ein. François’ Patenonkel flüsterte der Mutter ins Ohr, er bedaure es sehr, dass der Junge angesichts seines geistigen Zustands nichts von der Zeremonie begreife. Das verletzte François’ Mutter, und ihr kamen die Tränen. Ihr kleiner Sohn, der die Bemerkung gehört hatte, kam zu ihr und tröstete sie: »Mach dir keine Sorgen, Mama, Gott liebt mich, wie ich bin.«
François’ einfache Worte verdeutlichen, dass auf dem
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