Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Gebiet des Unsagbaren, der Innerlichkeit, der Intimität des spirituellen Lebens, dessen Ausdruck und Intensität individuell sind, Menschen ohne Behinderung nicht im Vorteil sind.
In dieser inneren Revolution, in die uns die Stille führt, entsteht Vergebung. Das Wort mag als störend empfunden werden, weil es für manche den Beigeschmack von Buße und Selbstkasteiung hat.
Dabei ist Vergebung unverzichtbar in einer Gesellschaft, die verletzliche Menschen allzu gern abschiebt.
Manche träumen von einem Kind, einer Zukunft, einem idealisierten Körper und bekommen stattdessen einen geistig behinderten Sohn, lassen sich dreimal scheiden und reihen in ihrem Gefühlsleben eine Niederlage an die nächste. Andere setzen sich todmüde hinters Steuer, obwohl sie sich lieber ausruhen sollten, und wachen im Rollstuhl auf. Wieder andere erleben es als Katastrophe, bei einer Aufnahmeprüfung durchgefallen zu sein.
In einer Gesellschaft, in der Perfektion an erster Stelle steht, sind wir so unzufrieden mit uns, hadern so mit unseren Niederlagen und Schwächen, dass wir uns und den anderen die Schuld daran geben wollen. Wir müssen wieder mit uns ins Reine kommen, genauso wie mit unseren Mitmenschen.
Lassen wir die gegenseitige Vergebung zu, durch die wir das Ideal der Perfektion überwinden können. Vergebung befreit uns, so dass wir auf das Andere zugehen und auf diese Weise entdecken können, dass das einzig Wertvolle, für das es sich zu kämpfen lohnt, der Zusammenhalt ist.
ZUSAMMENLEBEN
In Frankreich sind die Kritiker nicht gerade zimperlich mit Ziemlich beste Freunde umgesprungen. In einer Tageszeitung 24 wurde der Film völlig verrissen; da hieß es, er propagiere eine »Diktatur der Gefühle, um den totalen Mangel an Reflexion zu kaschieren«.
Als ein Journalist den Philosophen Alexandre Jollien zu diesem Vorwurf befragte, vertrat der die gegenteilige Ansicht: »Ein Thesenfilm wäre meiner Meinung nach völlig deplatziert gewesen. Die Einfachheit des Films appelliert an die eigene Erfahrung und nicht an die Theorie … Mir persönlich hat die Aufforderung, die gesellschaftlich vorgeschriebenen Rollen abzulegen, am besten gefallen.« 25
Jollien weiß, wovon er spricht; seine Erfahrung beruht auf seinem Philosophiestudium, aber auch auf seiner Lebensgeschichte. Da er an einer zerebralen Bewegungsstörung leidet, kam er bereits mit drei Jahren in eine Spezialklinik, wo er bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr blieb. In seinen Essays beschäftigt er sich mit der Einzigartigkeit des Einzelnen und der Solidarität des Kollektivs. Jollien sagt, er habe viel von den behinderten Menschen gelernt, mit denen er siebzehn Jahre seines Lebens verbrachte – lange bevor Sokrates zu seinem Lehrmeister wurde. 26 Sie hätten ihm Einfachheit, bedingungslose Liebe und Lebensfreude beigebracht.
Wie als Antwort auf die Kritiken am Film schrieb die Psychoanalytikerin Julia Kristeva kürzlich in einem Brief an Jean Vanier: »Man muss aufhören, über die Behinderung zu sprechen, und stattdessen mit den behinderten Menschen sprechen und mit ihnen zusammenleben.«
Dieses Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung, das unseren Alltag prägt, ist gleichzeitig ein Appell, eine Entwicklung herbeizuführen – hin zu einer Gesellschaft, in der Zuversicht und Glück wieder eine Rolle spielen. »Die Menschheitsfamilie kann nur Frieden und Erfüllung finden, wenn wir uns den Schwächsten unter uns zuwenden, sie anerkennen und aufrichten« – so drückt es Marie-Hélène Mathieu, die Begründerin des christlichen Behindertenwerks Office Chrétien des personnes handicappées, in einem zusammen mit Jean Vanier verfassten Werk aus. 27 Sie fügt hinzu:
Sie sind nicht nur wichtig und wahrhaft menschlich, sondern haben auch die Gabe, bei den anderen eine innere Wandlung herbeizuführen, wenn diese sich auf eine Beziehung mit ihnen einlassen und in einer Gemeinschaft mit ihnen leben … Die große Gefahr in unserer Gesellschaft besteht in der seelischen Abhärtung aufgrund der Angst, unter der viele Menschen leiden: Angst vor Misserfolg, vor Statusverlust oder vor finanziellen Einbußen, Angst vor Unfällen oder schweren Unglücken. Und dann können eben diejenigen am besten neue Zuversicht vermitteln, die Ängste ausgestanden und Kränkungen erfahren haben.
Die behinderten Menschen, die außerhalb der gesellschaftlichen Normen stehen, könnten die Vorboten einer neuen Welt sein – einer Welt, die nicht mehr von Gewalt,
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