Zigeuner
Strampler genäht. Unter muslimischen Roma-Eltern in Mazedonien war es üblich, Neugeborenen Bändchen oder Wollfäden um das Handgelenk zu binden, um einen ruhigen Schlaf zu fördern, aber auch um ihren vorzugsweise männlichen Nachwuchs vor Krankheit, Neid und bösem Blick zu schützen. Die Annahme, dass Gift und Galle übler Zeitgenossen durch die Augen den Weg zum Anderen finden, um ihm zu schaden, ist natürlich nicht nur unter Zigeunern verbreitet. Die Roma-Musiker jedoch, die in Bulgarien zu Hochzeiten oder zum islamischen Bayram-Fest aufspielten, hatten Abwehrmaßnahmen gegen derlei Attacken getroffen. Mir war aufgefallen, dass die Surna-Bläser Kettchen in die Schalltrichter ihrer Instrumente hängten, was unter klanglichem Aspekt wenig Sinn ergab. Dass er keine Kette aus Silber, sondern eine aus blauen Glaskugeln benutzte, erklärte der Blasmusiker in dem Rodopendorf Dolno Drajanavo damit, Ali, der Schwiegersohn Mohammeds habe schließlich auch blaue Augen gehabt. Da die Musikanten davon lebten, dass ein gutgelauntes Publikum ihnen für jeden Liederwunsch mit Spucke Geldscheine an die Stirn klebte, hatte das Kettchen mit den blauen Kugeln böse Blicke zu bannen, um zu vermeiden, dass fröhliche Feste in einem Desaster der Zwietracht endeten.
Nicht nur in Maximoffs Ursitory, auch in dem Roman Bitterer Rauch des wortgewaltigen Ungarn Menyhert Lakatos wimmelt es von magischen Ritualen und abergläubischem Zauber. Neun Kreise, mit dem Finger des Kranken um den Nabel gezogen, galten als Mittel gegen Magenbeschwerden. Gegen Bauchschmerz infolge verschimmelten Essens mussten Kinder Vogeldreck und Zwiebelsaft schlucken, während die Hemden der Kleinen beräuchert und auf die Türschwelle gelegt wurden. Bei den vielen Geburten sollte ein Besen vor der Tür verhindern, dass die Hebamme die Neugeborenen vertauschte, während der Schwanz einer Katze, Säuglingen in den Mund gesteckt, sie von der Mundfäule kurieren sollte. Nun haben mich die bulgarischen Schlangenesser vom Lügenfeld gelehrt, dass es den Roma höchstes Vergnügen bereitet, den Gadsche mit abstrusen Geschichten einen Bären aufzubinden. Geschenkt also, wenn bei Lakatos der ein oder andere absonderliche Hokuspokus weniger der Wahrheit als der dichterischen Phantasie entspringt. Anzunehmen ist jedoch, dass Menyhert Lakatos den jugendlichen Ich-Erzähler Negus Boncza als Sprachrohr nutzt, seine realen Erfahrungen mit dem Aberglauben mitzuteilen, den Negus nach außen hin verachtet, von dem er sich innerlich jedoch nicht befreien kann.
»Ich protestierte gegen den Aberglauben, wie wenn man gegen sich selbst protestiert. Ich traute ihm nicht, aber ich fürchtete ihn. Er umspann alles mit Tausenden von Fäden. An seiner Stelle gab es nichts anderes. Wenn ein Faden riss, gähnte dahinter ein Schatten, ein leeres Dunkel. Alles war ohne Glauben und Vertrauen.«
Der abergläubische Mensch sieht sich selbst von außen, mit dem Blick eines fremden Auges, ausgeliefert der Macht eines Numinosums. Ohne Vertrauen hängen sein Wohl und Wehe von dem Blick ab, den das fremde Auge auf ihn wirft, gut oder böse, beschützend oder vernichtend, gnädig oder zornig. Dieser Blick kann Glück begünstigen und Unglück herbeiführen, er kann Leben spenden oder Tod bringen. Es ist ein Kennzeichen magischen Denkens, den Blick des übermächtigen Auges manipulieren zu wollen, durch ein Hufeisen über der Haustür, durch ein Amulett, einen Talisman, ein Armband, eine Haarlocke unter dem Kopfkissen. Und wenn Lucian Mosneag sich weigert, den Zockern im Roma-Viertel Plopilior die Pokerkarten zu segnen, dann deshalb, weil er als Priester ein Seelsorger ist und kein Voodoozauberer.
Der Glaube an die Kraft der Magie, so der Anthropologe Bronislaw Malinowski, »ist immer die Bestätigung der Macht des Menschen, wenn er bestimmte Wirkungen durch bestimmte Beschwörungen und einen bestimmten Ritus erzielt.« Magie, sagt Malinowski, »befähigt den Menschen, seine wichtigsten Aufgaben mit Vertrauen auszuführen, sein Gleichgewicht und seine geistige Integrität in Wutausbrüchen, in Qualen des Hasses, unerwiderter Liebe, der Verzweiflung und der Angst aufrechtzuhalten. Die Funktion der Magie ist, den Optimismus des Menschen zu ritualisieren, seinen Glauben an den Sieg der Hoffnung über die Angst zu stärken.«
Zweitausend Jahre Christentum haben das magische Bewusstsein keineswegs überwunden. Vitale Restbestände haben sich in der Volksfrömmigkeit erhalten, sie wirken weiter in
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