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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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wie das Angebot, den Fahrpreis zu verdoppeln. Stolipinovos Ruf war ruiniert. Die bulgarische Presse nannte das Quartier, in dem damals geschätzte 40 000 Menschen lebten, nur noch »die Hölle«. Längst galt es als ausgemachte Sache, dass jeder, der das diabolische Terrain betrat, sofort von Kriminellen ausgeraubt würde. Schließlich stoppte eine Taxe, die von einem Rom chauffiert wurde. Als wir ihm das Fahrziel nannten, fiel uns der Mann vor überschwänglichem Dank fast um den Hals. »Wir sind nicht so schlechte Leute, wie viele über uns denken«, sagte er, und wir mussten ihn regelrecht nötigen, das Fahrgeld anzunehmen. Der Mann behielt recht. Die Roma von Stolipinovo, in der Mehrheit vom Stamm der muslimischen Xoraxane, die sich selbst als Türken verstanden, und die traditionsbewussten Burgudži, die Romani sprachen, waren fürsorglich darauf bedacht, dass wir uns in der Hölle frei bewegen konnten. Jahre später, als die Xoraxane Hunderte Frauen auf den Dortmunder Straßenstrich schickten, bekam mein Stolipinovo-Bild ein paar dicke Kratzer ab. Damals jedoch trafen wir in der verrufenen Siedlung nur Menschen, die sich darüber freuten, dass sich jemand für ihr Leben interessierte.
    Es war ein warmer Samstagnachmittag, und wir saßen mit Anton Karagiozov zusammen, einem herzlichen, engagierten Mann, der sich mit aller Kraft dafür einsetzte, dass junge Roma mit Schul- und Ausbildungsprogrammen Anschluss an die Gesellschaft fanden. Anton erzählte gerade, dass öffentliche Stimmen in Plovdiv forderten, eine Mauer um Stolipinovo zu ziehen und eine Sperrstunde ab zwanzig Uhr einzurichten, was die Ghettoisierung der Roma noch verstärkt hätte, als meine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Musik! Ohrenbetäubend und durchdringend machte sie jedes Gespräch zunichte. Der treibende Rhythmus der Schlagtrommel und der sägend quäkende Klang der Surna, einer orientalischen Form der Oboe, ließen auf eine Feier schließen. Die Melodien waren mir vertraut vom Ederlezi-Frühlingsfest in Mazedonien und von muslimischen Hochzeitsfeiern auf dem Balkan. Und tatsächlich, draußen formierten sich Frauen in festlichen Kleidern im Halbkreis zum Reigentanz. Und mittendrin, ganz in Weiß mit Schleier und Brautkranz, eine außergewöhnlich schöne schwarzgelockte Frau. Um sie herum pulsierte das Leben, wie konnte ich da als Fotograf stillsitzen? Bei einer Hochzeit!
    Nein, widersprachen Anton, Elena und Vesselin. »Das ist keine Hochzeit!« Wir stritten eine Weile, wobei ich mich darauf berief, als Fotograf schließlich meinen Augen trauen zu dürfen. Was sich als Irrtum erwies. Ich war hereingefallen auf bloße Schlüsselreize, auf akustische und optische Codes. Die Musikanten, die Melodien, die Frauen, die Kleider, der Tanz, alles ließ auf eine Hochzeitsfeier schließen. Doch geblendet von der Anmut der Braut hatte ich ein nicht unerhebliches Detail übersehen, dass nun einmal zu jeder Trauung dazugehört: den Bräutigam. Kurzum: Es gab keinen.
    Der Grund für diesen Umstand verblüffte mich. Der Vater der schönen Romni, der mich an den wunderbaren Laiendarsteller, den leider zwischenzeitlich verstorbenen Zabit Memedov aus Emir Kusturicas Zigeunerfilmen erinnerte, hatte seiner Tochter tatsächlich ein Brautkleid geschenkt und Musikanten bestellt. Außerdem Essen und Trinken für jedermann, der des Weges kam. Doch Altenka, »die Goldene«, wie sie hieß, feierte nicht Hochzeit, und sie war auch keine Braut. Wenn man so will, schaffte sie überhaupt erst die Voraussetzung für eine Eheschließung. Seine geliebte Goldtochter, so war von Altenkas Vater zu erfahren, lebte immer noch unverlobt im elterlichen Haus. Eine Schmach für die Familie, einem Bannfluch gleich, der sich jedoch lösen ließ. Denn der Vater hatte eine Vision. Im Traum hatte er eine Stimme gehört, die ihm riet: »Kauf deinem Kind ein Brautkleid und gib ein Fest, sonst wird sie nie einen ehrbaren Mann finden.« Und weil Altenkas Vater beim Abwenden einer familiären Katastrophe nicht der Logik der Vernunft, sondern der Stimme seines Traums gehorchte, kaufte er seiner Tochter das schönste Brautkleid, das er finden konnte, und richtete in den Straßen von Stolipinovo ein Fest aus, über dessen Sinn und Zweck sich außer mir niemand zu wundern schien.
    Einem aufgeklärten Verstand, der die Welt entzaubert und die letzten Relikte magischen Bewusstseins hinter sich gelassen hat, dünkt solch sonderbares Verhalten verrückt, entsprungen einem irrlichternden Aberglauben.

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