Zigeuner
Heiligenkult und Marienverehrung, bei Wallfahrten, Bußritualen und Opferzeremonien. Als Signum eines unreflektierten, aber symbolreichen und sinnenfreudigen Katholizismus ist der volksfromme Glaube weltweit verbreitet und daher keineswegs typisch für die Christen unter den Sinti und Roma. Doch es gibt Besonderheiten, spezifische Momente ziganer Frömmigkeit, die sich von den Glaubensbezeugungen der Gadsche unterscheiden und die vor allem in den traditionellen Marienwallfahrtsorten ins Auge springen. Ganz gleich, ob ich im portugiesischen Fatima, im spanischen Fregenal da la Sierra, im französischen Lourdes oder in Les Saintes-Maries-de-la-Mer als Fotograf unterwegs war, gegenüber den Aufnahmen mit den Zigeunern nahmen sich die Fotografien gläubiger Gadsche merkwürdig ausdrucksarm aus, stiller und ernsthafter sicherlich, aber auch betulich und bieder. Im Vergleich zu den Roma glichen die Prozessionen und Gebete der Nichtzigeuner normierten religiösen Amtshandlungen, während die Roma wahre sakrale Dramen vollzogen, bei denen ich nie wusste, wie viele Anteile einer echten Ergriffenheit oder einem ausgeprägten Sinn für Theatralik erwuchsen. Die Gesichter der Roma waren bewegter, ihre Kniebeugen pathetischer, ihre Gebete inbrünstiger. Alles in allem waren ihre Glaubensbekenntnisse expressiver und exzessiver, bisweilen allerdings auch maßlos.
Jedes Jahr werden in dem Pyrenäenstädtchen Lourdes, wo die Gottesmutter Maria 1858 an der Grotte von Massabielle der Müllerstochter Bernadette Soubirous erschien, viele Millionen Kerzen entzündet. Die Kirche vor Ort betreibt eine eigene Wachskerzenfabrikation, wobei sich die Preise nach der Größe und dem Gewicht richten. Ein, zwei oder zehn Euro kosten die dünnen Kerzen. Für eine Fünf-Kilo-Kerze mussten die Marienverehrer 2011 45 Euro bezahlen; für die üppigste im Konfektionsangebot, satte zwanzig Kilogramm schwer, waren 150 Euro zu entrichten. Die Preismaßstäbe werden jedoch außer Kraft gesetzt, wenn alljährlich Ende August die französischen Gitans und Manouches mit nahezu tausend Wohnwagen anlässlich ihrer Pèlerinage in Lourdes campieren. Die riesigen Kerzen, die von den Familien bei der Prozession geopfert werden, sind so schwer, dass es mitunter drei, vier erwachsene Männer braucht, um sie vor das Antlitz der Madonna in der Grotte zu schleppen. Selbstredend, dass die Roma nicht mit mickrigen Ein-Liter-Plastikpullen an den Hähnen für das wundersame Lourdeswasser Schlange stehen. Ein Zehn-, oder Zwanzig-Liter-Kanister sollte es schon sein.
Obschon die Madonna in Lourdes deutlich mehr Zigeuner anzieht, steht die Wallfahrt im Schatten des weitaus berühmteren Pilgertreffens in Les Saintes-Maries-de-la-Mer. In der Krypta der mittelalterlichen Festungskirche Notre-Dame in dem südfranzösischen Camargue-Städtchen residiert auf einem Steinsockel und gehüllt in prächtige Gewänder die Figur der heiligen Sara. Das Gewölbe ist von Kerzenruß geschwärzt. Glühende Hitze staut sich, treibt den Schweiß aus den Poren, raubt die Luft zum Atmen. Stets am 24. und 25. Mai brennen hier Tausende von Kerzen, zur Ehre jener Dame, die auf Romani Sarah-la-Kali heißt, zu Deutsch: die Schwarze, die Schutzpatronin der Zigeuner. Die mysteriöse Sara tritt den Beweis an, dass schillernde Mythen mitunter mächtiger sind als nüchterne Fakten. Mal soll Sara am leeren Grab des auferstandenen Jesus von Nazareth gestanden haben, mal war sie Äbtissin in einem ägyptischen Kloster oder floh bei Christenverfolgungen aus Persien. Nach Auskünften der Touristeninformation entstammte die dunkelhäutige Legendenfigur einer provenzalischen Familie. Sie wurde zur Dienerin von Maria Magdalena, Maria Salome und der Apostelmutter Maria Kleophas. Die drei Marien sollen, nachdem man Jesus ans Kreuz geschlagen hatte, ungeschützt auf dem Mittelmeer ausgesetzt worden sein. In einem winzigen Boot drohte den drei Frauen unweit des Rhonedeltas in stürmischer See der Untergang. Doch Sara stand am Ufer und besänftigte mit ihrem Schutzmantel das tobende Meer. Den Schiffbrüchigen ward Rettung zuteil, und Sara zog fortan bettelnd durchs Land, um für ihre drei Herrinnen zu sorgen und um Frankreich zu christianisieren.
De facto ist über die Herkunft der Schutzheiligen fast nichts bekannt, weshalb man die Schwarze im Kanon der Heiligen der katholischen Kirche auch vergeblich sucht. Doch der Mangel an offizieller Absegnung stört die Gitans wenig. In Anlehnung an die schwarze Göttin Kali in
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