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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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vorbereitende Ouvertüre zu dem eigentlichen Akt des Schauspiels: dem Bittgesuch an die Jungfrau der Immerwährenden Gnade. Denn wie kann die gütige Gottesmutter einem reumütigen Christenmenschen einen Wunsch verwehren, wenn er sich doch mit solch peinvoller Mühe vor ihr Antlitz gequält hat?
    Für die letzten zweihundert Meter seines Opfergangs benötigte Lucas Prado eine gute Stunde. Dabei wurde er von zwei Dutzend Frauen in Schwarz überholt, bejammerte Gott, die Welt und sich selbst und paffte sich ein halbes Päckchen Ducados in die Lunge. Keuchend und in Schweiß gebadet kniete er schließlich vor der Wunder wirkenden Madonna, nicht im Gestus eines unterwürfigen Schleimers, sondern mit den leuchtenden Augen eines stolzen Jungen, der sich einen Anspruch erworben hat. Das Anrecht auf Belohnung.
    Bei der nächtlichen Fiesta war Lucas Prados Leidensmiene längst einem entspannten Lächeln gewichen. Als die Whiskey-Flaschen kreisten und die schmerzenden Füße und blutigen Knie vergessen waren, erzählte er mir, er habe der Virgen eine Bitte vorgetragen. Nein, nicht etwa für sich selbst, sondern für seinen Bruder, »der Scheiße gebaut und mächtigen Ärger mit der Polizei hat«. Natürlich nötigte mich die Neugier des Reporters zu der Frage, um was für einen Ärger es sich dabei handelte. Doch »beim besten Willen«, so Lucas, darüber dürfe er um keinen Preis auch nur ein Sterbenswörtchen verlieren. »Nada, nada!«, sagte er und legte den Zeigefinger über die Lippen. »Sonst war das Opfer umsonst.«
    In Wallfahrtsorten wie Fregenal begegnete ich dem Glauben der Roma in seiner schlichtesten, aber auch in seiner ehrlichsten Form. Pragmatisch, ungekünstelt und unmittelbar. Es brauchte keine geweihten Priester, keine Prediger, keine klerikalen Hierarchien und keine katechetischen Unterweisungen. Niemand reflektierte hier die päpstlichen Dogmen der unbefleckten Empfängnis, der Jungfrauengeburt oder der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel. In Fregenal waren keine pilgernden Sinnheischer unterwegs, die nach spirituellen Einsichten oder gar nach ihrem wahren Selbst suchten, wobei irgendein Weg das Ziel war. Hier herrschten klare Verhältnisse. Die Welt war überschaubar, komplexitätsreduziert, geteilt in Oben und Unten. Oben der Himmel, unten die Erde. Unten strampelte sich der Mensch mit seinen Sorgen und Nöten ab, außer in Zeiten von Fiesta und Ausschweifung, oben thronte die Himmelskönigin. Ihre Gewogenheit galt es zu gewinnen. Nicht mehr und nicht weniger. Und deshalb war für die Büßer nicht der Weg, sondern das Ziel das Ziel. Ein solcher Glaube, und das macht ihn so anrührend sympathisch, ist bei Lichte besehen kein Glaube für Sieger und Gewinner. Er entspringt der Erfahrung des Scheiterns. Seine Größe besteht darin, der steten Vergeblichkeit zu trotzen. So wie die Figuren in den Filmen des Regisseurs Emir Kusturica.
    In einer wahnwitzigen Eingangssequenz des bildgewaltigen Meisterwerks Zeit der Zigeuner von 1989 hält der Zigeuner Merdzan einen Monolog. Und zwar mit Gott. Merdzan, großartig gespielt von Husnija Hasimovic, ist ein haltloser, liederlicher und durchgeknallter Psychopath. Er lügt und betrügt, säuft, frisst, klaut und hurt und pumpt, wie die Mütter klagen, unschuldigen Mädchen den Bauch auf. Zudem hat er ein weitaus folgenschwereres Laster. Er zockt. Doch gegen die Gangsterbosse und ihre augenzwinkernden Kiebitze kommt Merdzan beim Kartenspiel nicht an. Er verliert. Und zwar, das verleiht ihm einen Hauch von Sympathie, immer. Während der gerissene Verbrecher Ahmed in Zeit der Zigeuner die kalkulierende und skrupellose Variante der Bösartigkeit verkörpert, entspringt Merdzans Boshaftigkeit eher seiner Blödheit. »Er hat den Verstand verloren«, jammert seine Mutter Chaditza.
    Als Merdzan beim Würfeln wieder einmal alles zu verlieren droht, setzt er seinen letzten Besitz ein, ein Amulett mit goldenem Halskettchen, ein Geschenk seiner Mutter. Bevor er die Kette auf den Spieltisch legt, zieht sich Merdzan zurück und betet das vielleicht schlaueste, zugleich hilfloseste und absurdeste Gebet, das je den Weg zum Himmel suchte.
    »Oh Gott, hilf mir. Nur dieses eine Mal. Ich habe alles verloren. Hilf mir, wenn es dich gibt. Gut, lieber Gott, ich werde dir ein Geschäft vorschlagen. Nur zwischen dir und mir. Hör zu! Einmal nur, tu ein einziges Mal etwas für einen Zigeuner. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Hilf mir! Wenn ich heute gewinne, ich schwör’s dir, Gott,

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