Zigeuner
Wer allerdings die tragikomischen Filme Emir Kusturicas schätzt, in denen davonfliegende Brautschleier vom schmerzenden Verlust der Liebe erzählen und tote Zigeuner, auf Eis gelegt, gar wundersam wiederauferstehen, der wird in Altenkas Hochzeit ohne Bräutigam das sehen, was sie ist: ein rührender Akt im Drama des Lebens; ein Versuch, Einfluss zu nehmen auf jene treibende Kraft, die das Leben der Roma von der Wiege bis zur Bahre bestimmt: das Schicksal.
Nie wurde die Schicksalsgläubigkeit der Roma eindringlicher und poetischer in Literatur gefasst als in Die Ursitory des in Barcelona geborenen und 1999 in Paris gestorbenen Matéo Maximoff. Der erste und auch bedeutendste Roma-Schriftsteller schrieb den Roman 1938 mit kaum zwanzig Jahren. In einem französischen Gefängnis. Ein Streit zwischen seiner Familie und einer verfeindeten Sippe hatte eine blutige Fehde mit Toten ausgelöst. Die Überlebenden wurden vor Gericht gestellt. Der Jugendliche Maximoff, der jüngste der Angeklagten und der Einzige, der lesen und schreiben konnte, wurde dafür verurteilt, den Kampf der Familien beobachtet zu haben. Beeindruckt von der Fabuliergabe des Jungen riet ihm sein Anwalt, für ein Verteidigungsplädoyer einige Skizzen über das Leben der Zigeuner aufzuschreiben. Am Ende stand ein Roman, der tief eintaucht in die Erzähltraditionen der Roma, der Reales und Phantasiertes, Alltagserfahrungen mit Mythen und Legenden zu einem literarischen Kleinod verwebt. Die Ursitory. So heißen die Schicksalsengel, die in der dritten Nacht eines Neugeborenen dessen Lebensweg bestimmen.
Bei Maximoffs Romanhelden Arniko, der in einer Winternacht in einem Zelt geboren wird, hängt sein Los an einem Holzscheit, das seine Großmutter, die Zauberin Dunicha, vor dem Verbrennen einem Lagerfeuer entreißt. Arniko ist fortan in allen Gefahren beschützt, ohne zu wissen, dass er in dem Moment sterben muss, in dem das Holz zu Asche verfällt. Seine Mutter Tereina, die das Scheit hütet, wiederum weiß, dass ihr Leben getreu der Bestimmung der Engel mit vierzig Jahren enden wird. Kurz vor ihrem Tod übergibt sie das Scheit an Arnikos Frau Orka, die fortan über das Wohl ihres Sohnes wachen soll. Der Zigeuner Arniko jedoch begegnet seiner Gadsche-Jugendfreundin, der Grafentochter Helena, und entflammt erneut in Liebe. Arniko wird seiner Ehefrau untreu. Als er sie sowie seinen kleinen Sohn verlässt, wirft die eifersüchtige und verzweifelte Orka das Holz ins Feuer. In diesem Moment, so ist zu lesen, begann Arniko zum ersten Mal in seinem Leben Furcht zu empfinden. Just in jenem Wald, in dem nach seiner Geburt seine Großmutter Dunicha totgeschlagen wurde, weil man sie für eine Hexe hielt, schlägt auch seine letzte Stunde. »Man muss für alles bezahlen. Hier wurde ich gerettet. Hier werde ich nun sterben«, murmelt er, bevor mit dem Verglühen des Holzscheits auch sein Herz in seiner Brust verbrennt.
Die märchenhafte Handlung, von Maximoff in das Rumänien des 19. Jahrhunderts verlegt, ist zugestanden nicht ganz zeitgemäß. Wohl aber ihre Logik. Denn in Matéo Maximoffs Ursitory ist vieles, gar alles möglich, nur eines spielt absolut keine Rolle: der Zufall. Alles ist vorherbestimmt. Über allem Tun und Lassen, über allem Erdulden und Erleiden walten die Mächte des Schicksals. Mit Klugheit und Raffinesse lassen sie sich hin und wieder überlisten. Ignorieren auch, aber ausschalten lassen sie sich nicht.
In den Ursitory ist das längst verblasste kulturelle Gedächtnis der Roma, geprägt vor ihrem Exodus aus Indien vor über tausend Jahren, noch präsent. Während die abendländische Philosophie eine Freiheitsidee ausgebildet hat, in der ein autonomer Gestaltungswille den Menschen aus allen schicksalhaften Zuschreibungen herauslöst, finden Maximoffs Roma ihre Freiheit, wenn überhaupt, in der Fügung in ihre karmische Bestimmung. Auf die Verwurzelung des geistigen Erbes seines Volkes im Denken Indiens weist der serbische Schriftsteller und Roma-Menschenrechtler Rajko Djurić in Ohne Heim – ohne Grab hin, auch wenn seine ethnologischen Thesen ein wenig gewagt ausfallen.
»Die sogenannten ›Naturvölker‹, zu denen die Roma und Sinti zählen, sind nicht imstande, objektiv über die Welt zu urteilen. Sie erscheint ihnen als ›ihre‹ Welt, regiert von jenen Wesen und Kräften, an die sie glauben. Sie sehen die Welt als total abgeschlossenen Raum, und daher ist bei ihnen der Glaube an das Schicksal sehr ausgeprägt. Karma bzw.
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