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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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Indien, ist die Sara la Kali von Saintes-Maries eine gütige und behütende Mutter, die die individuellen und kollektiven Sehnsüchte eines zerrissenen, wenig geliebten Volkes bündelt. Sie ist das Ziel flehender Bitten, inniger Gebete und großzügiger Dankesgaben. Vor der schwarzen Heiligen werden Eide geleistet, Versprechen gegeben, Kinder getauft. Die gläserne Box mit den Bittbriefen quillt permanent über. Die Patronin wird von den Gitans getätschelt, geherzt und abgeküsst, bevor sie schließlich in einer Prozession, eskortiert von berittenen Guardians auf weißen Camargue-Pferden und unter touristischem Begleitschutz von zehntausend Fotoapparaten und Videokameras, ins Meer hinausgetragen wird.
    Den Hochrufen »Vivent les Saintes Maries! Vive Sainte Sara!« wird seit einigen Jahren von den Priestern ein drittes Lebehoch hinzugefügt. »Es lebe der auferstandene Christus.« Man darf dies als katechetische Maßnahme deuten, die im Umgang mit der katholischen Dogmatik etwas unorthodoxen Zigeuner an die rechte Glaubenslehre anzubinden. Denn bei den Roma steht die Mutter Gottes weitaus höher im Kurs als ihr Sohn, der eigentliche Stifter des Christentums. Und als der Vatergott sowieso. Wie sagte die krebskranke Mutter Rosa, die mir im ungarischen Kalocsa die Karten legte: »Gott sieht alles, aber er tut nicht viel. Deshalb musst Du zur Madonna beten. Sie allein hilft.« Rosa Sztojka hatte damit ausgesprochen, was im Zentrum ziganen Glaubens steht: die Sehnsucht, von einer guten Macht erhört zu werden. Und glaubt man den spanischen Gitanos, die ins extremadurische Fregenal de la Sierra wallfahren, dann stehen die Chancen, erhört zu werden, für den am besten, der auf sich aufmerksam macht, indem er oder sie die Gesetze des Tauschprinzips befolgt. Erhörung wird zwar gewährt, aber gratis ist sie nicht zu haben. Wer etwas bekommen will, muss etwas geben. Die Gabe himmlischer Huld erfordert eine Gegengabe. Am besten, man tritt mit seiner Gabe in Vorleistung, mit einem persönlichen Opfer.
    Selten sah ich einen Menschen so wunderbar leiden wie Lucas Prado. Lucas war ein Kalé-Rom, zählte sechsundzwanzig Jahre und gehörte zum Familienclan Los Matagatos, zu Deutsch »Die Katzentöter«. Er befand sich in Fregenal auf einem Bußgang und widerlegte die sittenstrenge Ansicht, nach der Schmerzerfahrung und Lustgewinn einander auszuschließen haben. Barfuß, mit durchgewetzter Hose und mit wunden Knien schleppte er sich zur Virgen de los Remedios, zur Jungfrau der Immerwährenden Gnade, wobei er mir nicht nur gestattete, sondern mich ausdrücklich aufforderte, ihn auf seinem mühsamen Weg fotografisch zu begleiten. Aus mir unverständlichen Gründen hatte er sich fesseln und von seinen Verwandten in eiserne Ketten legen lassen. Während seine Brüder ihn an einer Hundeleine führten, feuerten schöne Frauen in sündhaft engen Kostümen Lucas zum Durchhalten an und steckten ihm qualmende Zigaretten zwischen die Lippen. Die groteske Szenerie erinnerte ein wenig an sadomasochistische Episoden aus Pier Paolo Pasolinis Skandalfilm Die 120 Tage von Sodom. Ob Lucas Prado wirklich litt wie ein Hund oder seine Rolle nur fabelhaft spielte, oder vielleicht beides, war schwer zu entscheiden. Jedenfalls lamentierte, stöhnte und klagte er, um zwischendurch immer wieder mit gesenktem Blick zu verstummen. Seine stille Botschaft war nicht zu überhören und nicht zu übersehen: hier trug ein gepeinigter Büßer die Schuld der Welt auf viel zu schmalen Schultern.
    Erwähnt sei, dass man der Madonna in der Wallfahrtskapelle in Fregenal nicht mit aufrechtem Gang und erhobenen Hauptes gegenübertritt. Nur ahnungslose Touristen und pietätlose Fotografen leisten sich solch eine Respektlosigkeit. Der Gläubige hingegen nähert sich der Jungfrau Maria auf Knien. Viele Pilger umrunden ihren Sockel kriechend, robben sich auf Ellenbogen an sie heran, zaghaft, tastend und flehend, so als wolle die Madonna in ihrem goldenen Prachtgewand überzeugt werden von der Leidenschaft der Hingabe und der Aufrichtigkeit des Gefühls. Die Kunst zu überzeugen freilich erfordert mehr oder weniger raffinierte Taktiken der List. Wenn die Gitanos aus der spanischen Provinz Badajoz im Oktober zum Büßen und Feiern zur Fiesta nach Fregenal wallfahren, wirken die devoten Frömmigkeitsrituale daher wie Inszenierungen eines Läuterungsdramas. Die Mühsal des Opfers und die Strapazen der Buße werden fraglos erlitten, aber mehr noch zur Schau gestellt, als

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