Zigeuner
Schicksalsglaube ist neben maya (Scheinbarkeit der Welt) und tyaga (asketisches Streben nach Befreiung) einer der Grundbegriffe der indischen Philosophie und der Weltanschauung der Inder. Die Roma und Sinti jedoch haben das Karma verabsolutiert und finden für Ereignisse, besonders für die der Menschenwelt, eine Erklärung im Schicksal (astraja).«
Lässt man außer Acht, dass auch der Kulturmensch mit objektiven Urteilen so seine Schwierigkeiten hat und sich wahrscheinlich kein Sinto in Köln, kein Kalé in Madrid und kein Oláh in Budapest als Angehöriger eines Naturvolks versteht, trifft Djurić dennoch einen zentralen Nerv. Auf zahlreichen Reportagereisen nach Indien erstaunte ich immer wieder, weil mir bestimmte Muster der Weltdeutung von den europäischen Roma her vertraut waren. Weniger in den indischen Metropolen wie Bombay, Delhi oder Kalkutta. Hier hatten die gebildeten Brahmanen, die Ärzte, Lehrer und Akademiker den Karmaglauben nicht nur abgelegt, sie waren sogar entschiedene Gegner einer Schicksalsergebenheit, die gesellschaftliche Entwicklungen blockierte und Macht- und Ohnmachtsverhältnisse weiter zementierte. Auf dem Lande jedoch bei den Unterprivilegierten und den Kastenlosen, bei den Landarbeitern, den Tagelöhnern und dem Heer der ungebildeten Analphabeten lieferte der Karmaglaube das Erklärungsprinzip für alles, was den Menschen widerfuhr. Bei Krankheiten etwa. Ob einem die Lepra die Glieder verstümmelte oder die Tuberkulose die Lungen zerfraß, während der Nachbar verschont blieb, war eine Frage des Karmas. In Bombays Rescue Foundation traf ich Mädchen, die aus der Zwangsprostitution befreit worden waren. Sie alle mussten lernen, dass es nicht ein abstraktes Karma war, das sie in den düstersten Bordellhöllen der Rotlichtbezirke eingesperrt hatte, sondern Verbrecher aus Fleisch und Blut, Menschenhändler, die mit bösartiger Gewalt den Willen der jungen Frauen gebrochen hatten. Und wenn in den Steinbrüchen im ostindischen Yeleswaram Felsbrocken den Arbeitern die Knochen zerschmetterten und Granitsplitter ihr Augenlicht ruinierten, sahen die Menschen die Ursache der Unfälle nicht in kapitalistischer Profitgier und katastrophalen Arbeitsbedingungen, sondern in einem Netzwerk undurchschauter und undurchschaubarer Fügungen. Die Mächte des Schicksals ließen sich bestenfalls gewogen stimmen, wenn man an einer Kultstätte König Raju, dem Gott der Steine, geheiligtes Wasser, Tamarindenpulver und Räucherwerk opferte.
Die hinduistische Vorstellung von Karma als einem unerbittlichen Gesetz kausaler Verkettungen im Kreislauf der Wiedergeburt teilen die europäischen Zigeuner nicht. Auch wenn sie jedes Glück und jedes Unglück, jedes Lachen und jede Träne nicht als die Konsequenz aus guten und schlechten Taten in früheren Leben verstehen, so bleibt die Schicksalsgläubigkeit der Roma dennoch nicht folgenlos. Sie kann sanftmütige Duldsamkeit hervorbringen oder heitere Gelassenheit, aber auch lethargischen Fatalismus, dort wo Menschen in Jahrhunderten der Fremdbestimmung nie gelernt haben, ihr Geschick in die eigene Hand zu nehmen. Oder, wie die Gadsche sagen, ihres eigenen Glückes Schmied zu sein.
Für den Serben Rajko Djurić ist es kaum vorstellbar, dass ein Volk oder ein Individuum nicht nach Glück strebt. Nur haben für Djurić die Sinti und Roma die Idee irdischen Glücks »ins Absolute erhoben«. Dieser Idee ist alles untergeordnet, »sogar der Glaube an Gott«. Nun ist es in Zeiten von Materialismus und Konsumismus keine ausschließliche Eigenart der Roma, die vergänglichen Freuden der irdischen Existenz über den ewigen Seelenfrieden zu stellen. Ich denke jedoch, dass sich das zigane Streben nach Glück von dem der Nichtzigeuner unterscheidet. Gadsche definieren Glück eher darüber, was sie haben: materiellen Besitz, aber auch ideelle Reichtümer wie Erfolg, Gesundheit und Freundschaft. Hingegen besteht das Glück für viele Zigeuner darin, ein Unglück vermieden zu haben, gewissermaßen verschont worden zu sein von Krankheit, Leid und Anfeindung.
Um jeglicher Unbill übler Provenienz nicht schutzlos ausgeliefert zu sein, braucht es ritualisierte Strategien der Gegenwehr. Mitunter verdankt sich das Vertrauen in solche Rituale dem Misstrauen in die Welt der Gadsche. So hatte die junge Mutter Juchte, anstatt im mazedonischen Skopje zur Säuglingsvorsorge ein Krankenhaus aufzusuchen, ihrem fünf Tage alten Baby Gurgian einen Talisman aus Kuhhaaren und Glasperlen an den
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