Zigeuner
Roma zu ignorieren oder zu leugnen. Vor allem schloss das Motto José, Asier und mich als Gadsche nicht aus.
Wir hatten uns mit Natalio Saavedra angefreundet, einem vierzigjährigen Gitano, der mir auffiel, weil er eine dicke Goldkette um den Hals trug, oft und herzlich lachte und ein erstaunliches Quantum Cruzcampo-Bier wegpacken konnte. »Unsere Leute wandern ab«, sagte er. »Jede dritte Familie bleibt der Fiesta fern. Wenn nicht jede zweite. Glaub mir, zwischen unseren Familien herrscht Krieg. Wegen diesen Evangelikalen. Bei den Aleluyas ist nichts mehr erlaubt. Kein Bier. Kein Tabak. Keine Vergnügen, kein Tanz und keine schöne Frauen. Die verbieten alles, sogar den Glauben an die Heilige Jungfrau. Das spaltet unsere Familien.«
Welchen Verlust Natalio beklagte, begriff ich Jahre später, im Sommer 2010, als ich mit dem griechisch-katholischen Priester Lucian Mosneag im rumänischen Sibiu in Florin Cioabăs Thronsaal saß. Der Roma-König war als multi-engagierter Geschäftsmann reich an Gold und Einfluss, aber er war auch Prediger und Pastor der pfingstkirchlichen Philadelphia-Gemeinde, außerdem Vorsitzender des Centrul Crestin al Romilor. Dem freikirchlich-christlichen Roma-Zentrum, das über ein eigenes Seminar zur Ausbildung von Pastoren verfügte, hatten sich nach Cioabăs Bekunden bereits über zweihundert pentekostale Kirchen angeschlossen. Cioabă zeigte sich in unserem Gespräch als ein Erneuerer, als ein politischer, geistlicher und spiritueller Führer in der Tradition Stefans des Großen. Wie der moldauische Woiwode im 15. Jahrhundert die Ungarn und Rumänen missionierte, sah er es als seine Berufung an, im 21. Jahrhundert die Roma zum wahren christlichen Glauben zu bekehren, so wie er selbst einst in einem Erweckungserlebnis bekehrt wurde, als er nach einer Flussüberflutung eine angeschwemmte Bibel fand. Die Evangelisierung seines Volkes, so erklärte der König, sei für die Roma keine bloße Frage inneren Seelenheils, sie berge vielmehr »den Schlüssel zu ihrer sozialen Akzeptanz und ihrer gesellschaftlichen Integration«. Angesprochen auf die Rolle der rumänisch-orthodoxen Kirche, der die meisten Roma zumindest formell angehörten, meinte Florin Cioabă: »An sie hatten wir in der Vergangenheit nie eine wirkliche Bindung. Taufe, Hochzeit und Beerdigung, mehr hatten wir damit nicht zu tun.«
Damit hatte Pastor Cioabă nicht Unrecht. Der Same der pfingstkirchlichen Erweckungsprediger fiel und fällt auf fruchtbaren Boden, weil die etablierten Konfessionen in den Zigeunern die Mitglieder einer ethnischen, sozial bedürftigen Randgruppe sahen, nicht aber gleichberechtigte Mitbrüder und Mitschwestern. Die Roma waren Empfänger pastoraler Serviceleistungen und karitativer Zuwendungen seitens paternalistischer Betreuungskirchen, aktive Mitglieder lebendiger Gemeinden waren sie nicht. Dass einer aus ihren Reihen nach einem theologischen Studium zum Priester geweiht wurde, war unvorstellbar.
Wahrscheinlich sind die evangelikalen Kirchen bei ihrer offensiven Menschenfischerei unter den Zigeunern deshalb so erfolgreich, weil sie jene ansprechen, die aus ihrer Perspektive heraus eigentlich nur gewinnen können; Menschen, die aus dem Schatten der Missachtung ins Licht der Bedeutsamkeit treten, die mit einem Mal wichtig werden in einer Kirche, in der prinzipiell jeder zum Prediger berufen ist, sofern er ein paar Bibelstellen anführen und das Wunder seiner Bekehrung einigermaßen charismatisch bezeugen kann. Zugleich aber, und das darf man nicht unterschätzen, machen die Roma in ihren neuen Gemeinden oftmals die Erfahrung, dass Gemeinschaften über die engen Interessen der eigene Familie hinaus, dass Achtsamkeit und fürsorgliches Miteinander einen Weg weisen, auszubrechen aus selbstmitleidigem Erstarren und der Rolle des ewigen Opfers.
»Der alte Rom stirbt. Und mit der Taufe wird der neue geboren.« Florin Cioabă propagierte ein Menschenbild, demzufolge der neue Rom (von den Frauen sprach der König in seiner offensichtlich heteronormativen Genderfixiertheit nicht) dem Alkohol entsagt, dem Rauchen abschwört, nicht mehr fremdgeht und Vergnügungen meidet. Wer sich auf den Verzicht einlässt, dem winkt reicher Lohn. Aus Verlierern werden Gewinner, aus Sündern werden Geläuterte, und wer verdammt war, der wird gerettet. Schon möglich, dass die Welt besser wird, wenn die Diskriminierten und die Ausgeschlossenen nunmehr als die Sieger dastehen, belohnt mit sozialem Prestige, mit dem Gefühl der
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