Zigeuner
den Weg nach Nordspanien. In ein paar Tagen war der erste November, Allerheiligen. José kannte einige Friedhöfe, auf denen die Gitanos ihrer Toten gedachten. Da wollten wir fotografieren. Auf der Rückfahrt nach Bilbao schwiegen wir. Nach drei Tagen der Ausschweifung fühlte ich mich müde und leer, aber ich war mir sicher: Wäre ich kein Gadscho, Miguel, wir hätten das ganz große Geld gemacht.
KAPITEL 14
Das verlorene Paradies
Wenn »Herz der Zigeuner« im Fernsehen läuft – Wenn Roma keine Roma mehr sind – Räderwerk Schule: die Mühlen der Auslese – Starke Nerven erforderlich: in der Šcoală Waldorf in Roşia – Carmen und die Hürde der achten Klasse – Zur Bildungssituation deutscher Sinti und Roma: Eine Studie erfährt Widerspruch – Integration verändert die Integrierten – Das »heilige Feuer« und der »Funke des Trotzes« – »Ich habe gekämpft. Mein Leben lang«
Am frühen Abend leeren sich die Gassen in den Roma-Vierteln von Blaj. Mädchen, die eben noch Händchen haltend umherschlenderten, sind auf einmal verschwunden. Frauen, die gerade noch angeregt mit Nachbarinnen schwatzten, verziehen sich in die Häuser und Wohnstuben. Ionina, Codrutza und Elvira verlieren plötzlich die Lust am Gummi-Twist, stattdessen folgen sie dem Lockruf des Fernsehers. Wenn die drei Schwestern, Alter neun, zehn und zwölf Jahre, vor der Mattscheibe hocken, sind sie kaum mehr ansprechbar. Ebenso wenig wie ihre Mutter Joana. Denn um sechs beginnen die Telenovelas. Billige Serienproduktionen, aus Indien oder Südamerika. Unschlagbarer Favorit unter den Schmonzetten in Rumänien ist die Zigeunerromanze Inima de Tigan . Geiz und Gier, Intrige und Verrat, Untreue und Liebesrausch, Herz und Schmerz, alles gibt es reichlich zwischen schier endlosen Werbeblöcken. In »Herz der Zigeuner« sehen Helden noch wie Helden aus und Schurken noch wie Schurken. Und die Dialoge verstehen selbst Kleinkinder.
Anfangs dachte ich, die Satellitenschüsseln auf den Dächern auch der erbärmlichsten Hütte seien zaghafte Indizien eines Ausstiegs aus dem Elend, Symbole einer Anbindung an die Welt. Von außen betrachtet mag das so sein. Doch die Fernsehgeräte in den Roma-Siedlungen sind keine Statussymbole. Wenigstens nicht primär. Sie sind Fluchtfahrzeuge. Die Novelas erlauben imaginäre Ausflüge, in denen sich das Gefühlsleben aus der Trostlosigkeit des Alltags katapultiert, hinein in Träume von Wohlstand und Glück, die jederzeit wieder zerrinnen können, bevor sich das Blatt mit neuen Gewinnchancen abermals wenden kann. Das Fernsehen fungiert als eine Raum-Zeit-Maschine. Sie produziert eine Endlosschleife an Bildern, einen unablässigen Strom an Erregungsmustern, der ermöglicht, sich in ersehnte Welten zu phantasieren, ohne sich aufraffen und auf den Weg machen zu müssen. Wohin auch? Und wozu auch? Wo die Woche zwischen Montagmorgen und Sonntagnacht nichts zu bieten hat als eine öde Wüste der Ereignislosigkeit, reicht es mitzufiebern. Es scheint, als würden die Protagonisten der Fernsehromane fremde Leben leben, ab achtzehn Uhr, stellvertretend für ihre Zuschauer.
»Wenn ›Herz der Zigeuner‹ läuft«, sagt Joana Sirbu, »dann bebe ich vor Aufregung.« Von den über zweihundert Episoden haben sie und ihre Töchter keine einzige verpasst. Ebenso wie die Serien aus Brasilien. »Nur, die sind nicht leicht zu verstehen.« Nicht wegen der portugiesischen Sprache, sondern wegen der eingeblendeten rumänischen Untertitel. Denn Joana kann nicht lesen. Die kuriose Folge: In Zigeunersiedlungen wie Plopilior oder Barbu Liautiarul lässt sich mit ein paar Brocken Portugiesisch oder Spanisch durchaus Smalltalk betreiben. »Qué tal, señor?«, fragte mich Codrutza, als sie sich nach meinem Befinden erkundigte.
Wie sehr das Satellitenfernsehen Einfluss auf das Leben der Roma nimmt, weiß Lucian Mosneag, der als Priester neben seelsorgerischen auch mit kirchenamtlichen Aufgaben betraut ist. Etwa mit dem Führen eines Taufregisters. »Vor der Revolution 1989 hatten fast alle Zigeuner christliche Namen.« Die Registratur bestätigt: In kommunistischer Zeit waren Ana und Maria, Ion oder Gheorghe die uneingeschränkten Lieblinge. Hin und wieder findet man einen Stalin, Rambo, Kennedy oder Gagarin. Häufiger einen Tarzan. Ab 1990 dann, im Zuge der neuen Freiheit, häuften sich die Gregs, Bobbys und Pamelas, benannt nach den Akteuren der Fernsehserie Dallas aus der Welt der schönen, reichen und gehässigen Egoisten. »Heute wollen
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