Zigeuner
Bürgermeister der Gemeinde Apold Emil Toderan hob sein Glas und stieß mit doppelt gebranntem Pflaumenschnaps darauf an, dass nach vielen kummervollen Jahren in Wolkendorf für die Gemeinschaft wieder ein fettes Schwein geschlachtet würde. In einer mächtig beklatschten Rede meinte er, nun trage die Revolution endlich Früchte. Würde es überall in Rumänien so vorangehen wie in Vulcan, brauche man sich um die Zukunft des Landes keine Sorgen zu machen.
Als Hans und Lidia sich über die frohen Gesichter der Dörfler freuten, wurde auch mir klar, da waren keine spinnerten Phantasten am Werk, vielmehr Menschen, die ihre persönlichen Sehnsüchte mit dem Gespür für die Nöte der Anderen zu verbinden wussten und ihre Lebensidee realisierten. Und das mit Herzblut und mit Leidenschaft. Und sehr professionell. Wolkendorf hatte eine reelle Chance, aus den Ruinen des Sozialismus aufzuerstehen.
Dann passierte etwas, das nicht vorgesehen war.
Hans Schnells Gefährtin Lidia erkrankte. Und zwar schwer. Da in Rumänien an eine medizinische Behandlung nicht zu denken war, musste Lidia nach Deutschland zurückkehren. Hans begleitete sie und war damit über Monate nicht in Wolkendorf präsent. Das hatte Folgen.
Sich selbst überlassen, geriet das Aufbauprojekt außer Kontrolle. Es starb, wie so viele Kinder der Zigeunerin Suzanna, kurz nach der Geburt. Ohne Führung fühlte sich niemand im Dorf mehr für irgendetwas verantwortlich. Das Vieh wurde nicht gefüttert, die Kühe nicht gemolken. Keiner säuberte die Ställe, keiner bestellte die Felder. Binnen kürzester Zeit waren die Traktoren zu Schrott gefahren, die Reifen geplatzt, die Ersatzteile verscherbelt und die Anhänger demoliert. Was nicht im wahrsten Sinn des Wortes niet- und nagelfest war, wurde gestohlen und verkauft: Betonmischer, Bohrmaschinen, Schwingschleifer, Wasserboiler, Saatgut und Glühbirnen, wobei Hans Schnell nachdrücklich klarstellt, dass zwar jeder im Dorf klaute, die Rumänen jedoch weitaus dreistere Diebe waren als die Zigeuner. Als schließlich das Projekt für gescheitert erklärt und die Genossenschaft offiziell aufgelöst wurde, rissen die Leute sogar die Stallungen nieder und verkauften die Ziegel und das Holz des Dachstuhls.
Oft denke ich, Hans Schnell erschien zu früh in Wolkendorf. »Der Hansi kommt« war ein Hoffnungsseufzer. Weniger von gottverlassenen als von selbstverlorenen Menschen. »Der Hansi kommt« war der Ausdruck einer unendlichen Sehnsucht nach einem guten Patron. Die Wolkendorfer spürten sehr wohl, dass sie dem Deutschen vertrauen durften. Da war keiner aufgetaucht, um sie für egoistische Zwecke zu benutzen und zu missbrauchen, doch mit der Rolle des demokratisch organisierten Genossenschaftlers waren sie überfordert. Hoffnungslos. Sie waren nicht fähig, den verhängnisvollen Teufelskreis aus Entwurzelung, Verwahrlosung und Abhängigkeit aus eigener Willenskraft zu unterbrechen.
Zweifellos hätte Hans Schnell ein guter »Scheffe« sein können. Aber er suchte Mitarbeiter, die bereit waren, »zu lernen, ihr eigener Herr und Meister zu sein«. Stattdessen fand er »vom Stalinismus zerstörte Existenzen, nicht fähig, ohne Führung etwas aufzubauen«. Die Zigeuner wünschten sich in ihm einen Patriarchen, eine Autorität, die wohlmeinend sein musste, stark und gerecht.
»Sie sahen in mir eine Art Gutsherrn, der die Verantwortung tragen und ihnen Arbeit zuteilen sollte. Sie wollten im Grunde nur, dass man sie nicht betrügt und ihnen einen gerechten Lohn zahlt.«
Heute ist Hans Schnell ein vitaler Rentner, der zumindest ein kleines Stück seines Lebenstraumes verwirklicht hat. Nachdem sein Heimatdorf nach kurzer Blüte wieder verwelkte, arbeitete er als Gewerkschaftssekretär im Osten Deutschlands. Bis zu seiner Pensionierung. Vor ein paar Jahren kehrte er nach Siebenbürgen zurück und lebt seitdem in einem bescheidenen Haus in Schäßburg. Nicht wütend oder gar nachtragend, eher ernüchtert erzählte er mir, er habe zur Renovierung seines Hauses als Zeichen guten Willens lokale Roma-Handwerker beauftragt. Die hätten ihre Arbeit zwar ordentlich gemacht, aber auch seine teure Motorsäge mitgehen lassen.
Seinen Gästen zeigt Hans Schnell gern ein uraltes Türschloss. Einst verriegelte es das Haus seiner Vorfahren in Wolkendorf. »Martin Schnell, 1648« ist in das schwere Eisen eingraviert. Das Schloss funktioniert noch immer, als sei es für die Ewigkeit gebaut. Hans träumt davon, vielleicht doch noch sein Elternhaus
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