Zigeuner
legendäre Tschenstochau trieb, zu einem Besuch der Schwarzen Muttergottes.
Ich quartierte mich im gediegenen Orbis Patria ein. Der horrende Nominalwert von 640 000 Złoty für eine Übernachtung mit Frühstück erwies sich nach der Umrechnung als bezahlbar. Zudem stieg meine Laune beim Abendessen, beim Studieren der Speisekarte, die auf Deutsch solch kulinarische Sonderbarkeiten wie »maionäsige Eier der Russen« empfahl. Nach dem Essen fiel mir die Zeitung gazetta dla pielgrzymów in die Hände. Sie enthielt einen »Kleines Ratgeber für Pilger vom Ausland«. Auf Englisch, Russisch, Französisch und Deutsch wurden Wallfahrer dringlichst vor allen möglichen Ganoven gewarnt.
»Der Gehobencharakter des bevorstehenden Mariafestes ist für manche die Gelegenheit zur Sünde. Die Taschendiebe halten ihrer Ernte. Zum Opfer fallen hauptsächlich die Auslandsgäste, das Bargeld, die Bekleidung, Photoapparaten usw. Menschliche Sorgelosigkeit und Unbefangenheit lehfen den Verbrechern.«
Wie die Warnung zu verstehen war, sollte ich tags darauf erfahren, als ich in einem Anflug von guter Laune einer Wahrsagerin erlaubte, einen Blick in meine Zukunft zu werfen.
In aller Frühe machte ich mich auf den Weg zum Jasna Góra, dem Hellen Berg, der Heimstatt der Schwarzen Madonna. Ohne Notizblock und ohne Kamera, offen für das, was kommen mochte. Außer mir hatten sich in der Marienkirche noch ein alter Mann mit Rosenkranz eingefunden sowie ein paar verhärmte Matronen mit Kopftüchern. Eine halbe, vielleicht eine Stunde saßen wir auf den Holzbänken. Es war eine Zeit der Stille, eine Weile des Innehaltens. Dann ging ich zurück.
Von weitem schon erkannte ich drei Zigeunerinnen. Ihren wehenden roten Röcken nach zu urteilen, mochten es Kalderasch-Frauen aus Rumänien gewesen sein. Sie bettelten um Geld. Keineswegs abweisend genervt, sondern vom Besuch der Madonna milde gestimmt schenkte ich einer der Frauen einen Zehn-Mark-Schein. Sie war aufrichtig überrascht. Sie freute sich, dass ihr Tag so gut begann, und erzählte in radebrechendem Deutsch, die Frauen hätten den Sommer über in Bremen und Berlin gearbeitet. Weil sie dort jedoch immer häufiger die Erfahrung gemacht hätten, »Deutschmark gutt, betteln U-Bahn, nix gutt«, seien sie nun auf dem Weg zurück ins rumänische Sibiu. Für meine Großzügigkeit, »du guttes Mann«, offerierte mir die Romni einen Blick in die Zukunft. Ich nahm an.
Wir setzten uns auf eine Bank, und sie zelebrierte ein obskures Ritual. Sie zerknüllte den Zehner mit den Händen, riss mir ein paar Haare aus und stopfte sie zu dem Geldschein in ihre Faust. Dann spuckte sie auf das Ganze und deutete mir, ihr gleichzutun, wobei sie unverständliches Zeug murmelte. Dann stierte sie in die Luft und erklärte im Gestus tiefen Bedauerns, der Blick in die Zukunft sei leider noch verstellt.
»Geld gutt, aber nix genug.«
Ich ahnte den Zweck des Zaubers, doch er machte irgendwie Spaß, und ich zog noch ein paar Tausender Złoty -Scheine aus der Tasche. Wieder Haareausreißen. In die Fäuste spucken. Gemurmel. Leider immer noch nichts zu sehen. Zu wenig Geld. Nun gut, dachte ich, eine letzte Investition. Weniger gut, denn aus den Bündeln von Złoty in der Tasche fischte ich ausgerechnet einen Hunderttausender-Schein heraus. Wieder Haarerupfen, Spucken, Getuschel und der beschwörende Blick gen Himmel, nach dem sich der folgende Dialog entspann.
»Allmählich muss sich das Tor zur Zukunft doch geöffnet haben«, sagte ich.
»Hat auch! Hat auch geöffnet«, lächelte die Frau. »Aber nix ganz. Nur halb.«
»Ich habe kein Geld mehr.«
»Ich nix glaube. Du noch hast viel Geld. In Tasche. Sehr viel Geld. Du reiches Mann. Du guttes Mann.«
»Ganz bestimmt nicht. Du weißt doch selbst, Deutschland ist teuer. Der Staat nimmt alles. Steuern für Zigaretten, Steuern für Benzin, Strafe für Schwarzfahren in der U-Bahn, Strafe für falsches Parken. Überall lauern Betrüger.«
»Du haben recht«, sagte sie. »Aber du versprechen, du nix hast mehr Geld.«
Ich versprach. Und erhielt eine Lehrstunde in gewiefter Schlitzohrigkeit. Mein Versprechen reichte nicht.
»Schwör! Schwör bei Leben von deine Mutter. Und schwör bei Madonna, dass du nix hast mehr Geld.«
Ich schwor. Natürlich bin ich frei von Aberglauben, aber in Anbetracht möglicherweise frei flottierender und unkontrollierbarer schwarzmagischer Energien kreuzte ich vorsichtshalber den Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand hinter meinem
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