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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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zu restaurieren.
    Die Gabor-Sippe lebt nicht mehr in Wolkendorf. Erst im Frühjahr 2012 steckte mir Hans Schnell, dass die Zigeuner tatsächlich so unklug waren, das ihnen zugeteilte Land, zweihundert Hektar immerhin, für Schnaps und Zigaretten an einen orthodoxen Schäßburger Popen zu verscherbeln. Trotz vieler Nachfragen konnte mir niemand sagen, wo sie hingezogen waren. Es interessierte auch keinen. Eva, Clara, Buba und all die anderen, ich wüsste gern, wo sie heute leben und wie sie leben. Die renovierte Schule ist noch in Betrieb, ansonsten sieht es in Vulcan nicht besser aus als vor über zwanzig Jahren. Eher schlechter. Der Feldweg nach Apold ist bis heute nicht asphaltiert. Wo einst die Zigeuner wohnten, blieben nur nackte Hausfassaden und von Unkraut überwucherte Steinhaufen. Der treue Gorbi, der von seiner Frau Clara und seiner Familie getrennt lebt, taucht manchmal bei Hansi auf. Dann klingelt er an der Tür und fragt, ob es Dachrinnen zu reparieren gibt. Wenn Hans Schnell verneint, reden die beiden eine Weile, bis Gorbi wieder seines Weges zieht.

KAPITEL 3
    Orakel und fauler Zauber
    Verteilungskämpfe um Kuchen und Krümel – Hellsehen in Tschenstochau: wenn sich das Tor zur Zukunft nicht öffnet – Eine Prophezeiung, die leider nicht eintrat – Rumänien: die Hexen und die Steuerprüfer – Über den Unterschied von Wahrsagen und angeblichem Wahrsagen – Geben und Nehmen: nur gegen Quittung – Mutter Rosas drittes Auge
    Als das Gros der Menschen in Osteuropa orientierungslos durch Raum und Zeit taumelte, verunsichert vom Nutzen der Liberalisierung, schlug die Stunde der Dreisten und Anpassungsschlauen. Während sich hinter den Kulissen die Seilschaften der Apparatschiks demokratisch legitimierte Posten an den Finanzquellen der Zukunft sicherten, verlagerte sich der sichtbare Teil der Verteilungskämpfe auf die Straße. Hier wurde nicht um die großen Stücke vom Kuchen gerungen, sondern um die Krümel. Es war die Zeit, als zwielichtige Gestalten in schäbigen Lederjacken in den Fußgängerzonen von Warschau und Budapest, von Prag und Sofia »change, change, change« zischelten und halbseidene Zocker einem in der Herrentoilette des Bukarester Interconti für einhundert Deutsche Mark eine halbe Plastiktüte voller rumänischer Lei in die Hand drückten; die Tage, als man lappige Papiernoten bündelweise in die Taschen steckte und schwindsüchtige Währungen ihre Kaufkraft schneller verloren, als sich die Kurstabellen in den Wechselstuben studieren ließen. Natürlich musste man aufpassen, dass einem die Devisentauscher in düsteren Toreinfahrten für harte Westwährung keine Packen mit Zeitungspapier andrehten. Wurde man dennoch einmal von cleveren Gaunern betuppt, fluchte man ein bisschen auf die eigene Leichtgläubigkeit, trank zum Trost für fünfundzwanzig Pfennige ein frisches Budweiser und ein zweites hinterher und verbuchte den Verlust als Preis der neuen Freiheit.
    Nirgends waren die Kämpfe und Kungeleien um die Umverteilung von Geld und Gütern augenfälliger als an jenen Stätten, an denen die Rechtschaffenen und Gutgläubigen auf die Ausgebufften und Schlauen trafen. In Częstochowa zum Beispiel, der wohl frommsten Stadt Polens, der Heimat der wunderwirkenden Schwarzen Madonna, deren Bildnis alljährlich das Ziel von einigen Millionen arglosen Pilgern ist.
    Ich erreichte Tschenstochau im August, wenige Tage vor dem Massenansturm der Wallfahrer zum Fest Mariä Himmelfahrt. Ich war deprimiert. Denn zuvor hatte ich im oberschlesischen Industriegebiet fotografiert und recherchiert. Die Reportage hieß »Das Kreuz mit dem Wodka« und erzählte von katholischen Pfarrern, die mit missionarischem Eifer, aber ziemlich erfolglos gegen den grassierenden Alkoholismus anpredigten. Als Zeichen vorbildlicher Lebensführung tranken sie in der Heiligen Messe keinen Wein mehr, sondern Traubensaft aus Tetrapacks. In den qualmenden, stinkenden und verdreckten Bergbaustädten wie Katowice, Chorzow oder Zabrze waren die sozialistische Utopie und ihre Subjekte in der Gosse gelandet. Im wahrsten Sinn des Wortes. Niemals zuvor sah ich so viele betrunkene Männer, die brabbelnd durch die Straßen torkelten.
    Jedenfalls hatte mich die Geschichte mitgenommen. Denn es ist nicht so, dass derjenige, der Menschen ganz unten im Schmutz fotografiert, selber unbefleckt und sauber bleibt. Vielleicht war es daher das undurchschaute Bedürfnis nach Reinigung, das Verlangen nach einem Akt der Läuterung, das mich in das

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