Zigeuner
ein paar Kinder.« Dann verschwand Rosa in ihrer Schlafkammer. Nach einer Weile kam sie mit ihrem Rosenkranz zurück. Den schenkte sie mir. »Vielleicht wird er dich beschützen. Ich bin alt. Ich glaube, ich brauche ihn nicht mehr.«
Manchmal schaue ich die alten Schwarzweiß-Fotografien von Rosa Sztojka an. Dann geschieht etwas Eigenartiges. Es kommt mir so vor, als scheine mit der Erinnerung an ihr offenes und herzliches Wesen eine Ahnung davon auf, was das Evangelium des Matthäus meint, wenn Jesus von Nazareth die befremdliche Mahnung ausspricht: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen.« Das Wort birgt freilich keine Legitimation für eine fortschreitende Infantilisierung erwachsener Menschen. Der große Theologe Karl Rahner verstand, was der Stifter des Christentums meinte, als er sagte, das Himmelreich gehöre den Kindern. Obwohl der Jesuit Rahner weniger von den Zigeunern als von Thomas von Aquin inspiriert wurde, wusste er: Kinder sind »die sorglos Empfangenden Gott gegenüber, diejenigen, die wissen, dass sie in sich nichts haben, worauf sie einen Anspruch gründen könnten, und dennoch vertrauen auf die schenkende Güte und Geborgenheit, die ihnen entgegenkommen«.
Ich glaube, so ein Menschenkind war Rosa Sztojka.
Zurückschauend kann ich mich nicht entsinnen, dass mir eine Braungelockte mit dunklen Augen irgendwann das Leben allzu schwer gemacht hätte. Was selbstverständlich nicht gegen, sondern für den Blick Mutter Rosas spricht. Hätte sie mich nicht gewarnt, so ist zu fürchten, hätte mich ein Weib mit seiner ungezügelten Leidenschaft und Eifersüchtelei gewiss in ein heilloses Desaster gestürzt.
Wenige Monate nach unserer Begegnung hatte Rosa Sztojka den Kampf gegen den Krebs verloren. Das erzählte mir Viktória Mohácsi viele Jahre später. Wir saßen im Auto auf dem Weg von Budapest nach Tatarszentgyörgy, unterwegs zu Recherchen zu einer traurigen und bösartigen Geschichte. Von dieser Reise, die hineinführt in das kranke Herz des Hasses, wird noch zu erzählen sein.
KAPITEL 4
Aus der Zeit gefallen
Bulgarien: Mit einem Bein im Mittelalter – Pilzsammler ohne Pilze, Kupferschmiede ohne Kupfer und Bärenführer ohne Zukunft – Mit der Caritas unterwegs im rumänischen Blaj – Vom Winde verweht – Ganz unten: die Roma im Müll von Oradea – Keine Papiere, keine Existenz – Wovon lebt der Mensch? – Kinder, die sich selbst beschützen – Die Geschichte von den neuen Schuhen, die einen unglücklichen Jungen noch unglücklicher machten
Ende der neunziger Jahre unternahm ich einige Reisen zu den Zigeunern in Bulgarien, um traditionelle Handwerke kennenzulernen, die womöglich schon bald verschwunden und Geschichte sein würden. Häufig gehen die Namen der Stämme innerhalb der Roma-Ethnie auf die Tätigkeiten der Männer zurück, ein Erbe des indischen Kastensystems, das die beruflichen Stände und die verwandtschaftlichen Beziehungen strengen Regeln unterwarf. Die starken Bande des Stammes halten bis heute, auch wenn die ursprünglichen Berufe seit Generationen nicht mehr ausgeübt werden. So verdanken die Lovara, die Pferdehändler, ihren Namen dem ungarischen Wort »ló« (Pferd). Der rumänische Begriff »căldare« (Kessel) stand Pate für die Kalderasch, die Kupferschmiede und Kesselflicker. Und die Nachfahren jener Wanderzigeuner, die früher mit dressierten Bären über Land zogen, nennen sich Ursari, abgeleitet vom rumänischen »urs« (Bär).
Ich hatte das Glück, mit den beiden Ethnologen Elena Maruschiakova und Vesselin Popov unterwegs zu sein, die mich durch ihr erstaunliches Erfahrungswissen und ihre Fülle von Kontakten verblüfften. Jeder regionale und lokale Roma-Führer war ihnen persönlich bekannt. Sie wussten, welcher Stamm auf welche Arbeiten spezialisiert war, hatten eine Idee, wann wir wo wen treffen konnten, und wenn sie einmal keine Ahnung hatten, in welcher Region Bulgariens sich gerade welche Sippe aufhielt, dann wählten sie aus ihrem Telefonbuch die Nummer von jemandem, der weiterhalf. Wir besuchten Eisenschmiede, Spengler und Verzinner, Waldarbeiter und Holzköhler, Pilzsammler und Korbflechter. Wir trafen Schilfschneider, die Fußmatten fabrizierten, und Lingurari-Familien, die Holzlöffel und Stöpsel für Weinfässer schnitzten. Wir suchten Zigeuner vom Stamm der Rudari auf, Nachfahren einstiger Leibeigener, die noch im 19. Jahrhundert als Minenarbeiter und Goldschürfer versklavt
Weitere Kostenlose Bücher