Zigeuner
stundenlang. Manchmal rief sie Mama oder Papa, die einzigen Worte, die sie beherrschte.
Es fiel auf, dass die Eltern des buckligen Gheorghe, der blinden Maria oder der behinderten Alina etwas gemein hatten. Ihr Jammern und Klagen, man habe für Arztbesuche kein Geld, verbarg mehr schlecht als recht eine beklemmende Gleichgültigkeit. Es waren die Mitarbeiter der Caritas, die sich auf den Weg zu den Roma machten. Nicht umgekehrt. Nur selten rafften sich die Zigeuner auf und suchten aktiv um Hilfe nach. Vielleicht hatten sie zu oft in ihrem Leben erfahren, dass sich der Aufbruch nicht lohnte, weil er an kein Ziel führte.
»Mit Leuten, die sich nicht achten, haben wir nichts zu schaffen. Wir verdienen unseren Unterhalt mit der ehrlichen Arbeit unserer Hände«, sagte Victor Calderar. Nicht der verhinderte Blechschneider selbigen Namens aus Copşa Mică, sondern der Kupferschmied Victor Calderar aus Brateiu. Seine Sippe zählte zum Stamm der Kesselschmiede. Anders als die Verzinner im bulgarischen Yagodovo, die durch die Ramschware aus Asien ihre Arbeit verloren, garantierte ihr Handwerk den Kalderasch aus Siebenbürgen augenscheinlich ein erträgliches Auskommen. Ein gutes Dutzend Familien lebt heute am Ortseingang von Brateiu, wo sie, verkehrsgünstig gelegen an einer vielbefahrenen Überlandstraße, vor ihren üppigen Ziegelhäusern ihre Schmiedearbeiten aus Kupfer feilbieten, Kessel, Kannen und Kochtöpfe. Besonders begehrt sind Destillieranlagen für die ungezählten häuslichen Schnapsbrennereien. Auf das Heer der arbeitslosen Tzigani, die von der Fürsorge lebten, schauen die Kalderasch nur von oben herab. Wie auf ein Lumpenproletariat.
»Die Abgrenzung der verschiedenen Zigeunerstämme untereinander ist oft größer als die Vorurteile und die Diskriminierung durch die Rumänen«, sagte Gheorghe Muşetescu, der Priester aus Brateiu. In dem Dorf im Tal der Târnava lebten sechshundert Familien, wobei der Anteil der Tzigani stetig stieg und 2010 bereits die siebzig Prozent überschritten hatte. Im Februar zuvor hatte Muşetescu zwei rumänische Kinder getauft. Und zweiundzwanzig Roma-Kinder. »Das Verhältnis der verschiedenen Bevölkerungsgruppen gerät zusehends aus dem Gleichgewicht.« Das hatte Konsequenzen für Muşetescus Gemeinde. Und unmittelbare Folgen für ihn selbst. Als griechisch-katholischer Pfarrer erhielt er ein minimales Gehalt vom Staat. Den Rest zu seinem Lebensunterhalt steuerten die Gemeindemitglieder bei. Früher jedenfalls. Die verarmten Roma jedoch zahlten nichts. Da Gheorghe Muşetescu von seiner Pfarrei nicht mehr leben konnte, wollte er nun nebenbei mit gebrauchten Möbeln und Heizungsanlagen aus Deutschland handeln.
Nicht nur in Brateiu, auch in Blaj, Copşa Mică, in Cetatea de Baltă oder in Viscri, allerorten in Transsilvanien entwickelte sich die Bevölkerungsstruktur in eine ähnliche Richtung. In Viscri, dem sächsischen Deutsch-Weisskirch, stellten die Roma 1990 unter den heimischen Rumänen, Sachsen und Ungarn noch die Minderheit. Von den vierhundert Siebenbürger Sachsen blieben nach der Wende keine zwei Dutzend, dafür stieg die Zahl der Roma durch Zuzug und hohe Geburtenrate sprunghaft an. Roma-Familien, die einst einen Teil ihres Einkommens als Besenbinder und Korbflechter erwirtschafteten, sind heute von Kindergeld und Sozialhilfe abhängig. Keine gute Voraussetzung für ein intaktes Dorfleben.
Zweieinhalb Millionen Roma dürften in Rumänien leben. »Um die Probleme zu verharmlosen«, so Caritas-Chef Anuşcă, »werden die Zahlen von den Behörden heruntergerechnet.« Zudem verleugnen viele Roma ihre ethnische Identität aus Furcht vor Diskriminierungen. Im Landkreis Alba Iulia soll es nach staatsoffizieller Statistik gerade einmal fünftausend Zigeuner geben. Fast viertausend lebten im Jahr 2011 allein schon in der Kleinstadt Blaj. Keine Familie hat hier weniger als vier, fünf Kinder. Oft zehn oder mehr. Viele Mädchen heiraten mit vierzehn und sind mit dreißig Jahren Großmutter. In den Roma-Siedlungen, in denen die Arbeitslosenquote oftmals bei neunzig Prozent liegt, garantieren Kinder die einzige Einnahmequelle der Familien. Dass sie nicht arbeiten und in den Tag hinein leben, dass sie auf eine kärgliche Fürsorge spekulieren und immer neue Kinder zur Welt bringen, das alles ist gewiss ein Problem. Das eigentliche Drama aber ist ein anderes. Viele Zigeuner scheinen gegen den Schmerz ihrer Entwurzelung immun geworden zu sein, als sei ihnen die stete Entwürdigung
Weitere Kostenlose Bücher