Zigeuner
Und deren gemeinsamer Inhalt ist keineswegs ein Erfahrungskern, vielmehr laut Opfermann: »der Verdacht«.
Solche Thesen verblüffen mich. Sollten die Akademiker recht haben, dann waren all die Kartenlegerinnen, Handleserinnen und Zauberhexen, denen ich auf meinen Reisen begegnete und die ich auch fotografierte, nur Phantasmagorien. Dann waren die kleinen Kungler, die Bettler und die prahlenden Wichtigtuer – »Ich besorg dir alles, Mann, TV , Video, DVD « – nur Produkte meiner Einbildungskraft. Die ausgebufften Geldwechsler in Sofia. Die dreiste Gitana aus Saintes-Maries-de-la-Mer, die für ein Madonnenmedaillon kassierte, es wieder einsteckte und verschwand. Die Männer, die an einer Raststätte an Ungarns M6 eine bleischwere falsche Goldkette gegen echte Euro tauschen wollten, angeblich um ihren leeren Benzintank zu füllen. Womöglich wurde auch die beleibte Romni im slowakischen Spisske Podhradie, die mich mit ihrer Hartnäckigkeit erdrückte, ein Opfer meiner Verdächtigung. Hielt ich den goldenen Ring, den sie mir aufschwatzte, doch für poliertes Messing. War ich demnach keiner Bauernfängerin begegnet, sondern einem antiziganen Vorurteil aufgesessen? Ulrich F. Opfermann spricht im Zusammenhang mit solchen Klischees von »delinquenz-, devianz- und dissidenzgerichteter Stereotypbildung«. Das klingt beeindruckend, könnte aber noch imposanter klingen, würde man auch noch den Urheber aller Verdächtigungen nennen: die demagogisch denunziatorische Dominanzgesellschaft.
Gottlob wird das Gleichgewicht von Geben und Nehmen, von Leistung und Gegenleistung wieder gewahrt. Zumindest in Rumänien, wo die angebliche Wahrsagerei durchaus reale Steuereinnahmen verspricht. Wo allerdings das Orakeln als Dienstleistung gilt und die Magierinnen ihren Klienten nach erfolgter Spökenkiekerei einen Quittungsblock vorlegen, da verfliegt mit dem Zauber, auch wenn er faul sein mag, jeglicher sozialkommunikative Unterhaltungswert. Wenn demnächst in rumänischen Gerichten sonderbare Utensilien wie Hundehaufen, Katzenpisse und pulverisiertes Schamhaar zur Beweisaufnahme beschnüffelt werden, dann sehnen wir uns womöglich in jene Zeiten zurück, als der Blick in die Zukunft noch einer Kultur des Homo ludens entsprang. Einer spielerischen Kultur, in der der Listige den Dummen übers Ohr hauen konnte, ohne ihn in seiner Existenz zu treffen. Doch vorbei sind die Tage, als der Mensch so frei war, dass Klugheit belohnt und Blödheit bestraft wurde. Heute schaltet der Düpierte seinen Rechtsanwalt ein.
Mahnend sei dennoch gesagt, dass es nicht klug ist, Frauen für Schicksalsprognosen Geld zu geben. Wobei es egal ist, ob sie tatsächlich oder nur angeblich wahrsagen. Salopp formuliert: Ob die Knete weg ist oder nur angeblich weg ist, macht für den, der sie sich aus der Tasche ziehen lässt, keinen Unterschied. Um der Ausgewogenheit der Berichterstattung willen und zur Ehrenrettung wahrhaft hellsichtiger Zigeunerinnen soll jedoch die Geschichte einer wunderbaren Begegnung nicht unerzählt bleiben. Die Geschichte von Mutter Rosa und ihrem dritten Auge.
Als ich an einem Samstag im Dezember 1995 morgens um acht mit meiner Begleiterin, der jungen Fernsehjournalistin Viktória Mohácsi, in Budapest ins Auto stieg und der Donau folgend Richtung Süden aufbrach, wurde drei Autostunden entfernt die alte Rosa Sztojka für verrückt erklärt. So jedenfalls wurde uns später glaubhaft versichert.
Wie immer war Rosa früh aufgestanden. Sie hatte sich eine wollene Decke um ihre Schultern gelegt und sich neben den warmen Ofen gehockt, um die Kälte des einbrechenden Winters aus ihren Knochen zu vertreiben. Sie nippte heißen Kaffee, blickte plötzlich auf, schaute ihre Schwiegertöchter an und befahl: »Geht in den Stall. Köpft ein Huhn und werft es in den Kochtopf. Heute kommen seltene Gäste.«
»Red kein wirres Zeug«, erwiderten ihre Söhne mürrisch. Warum eines der letzten Federviecher schlachten? Warum ein Festmahl bereiten? An einem gewöhnlichen Tag, an dem es nichts zu feiern gab? Zudem ließ nichts auf ungewöhnlichen Besuch schließen. Kein Brief, keine Nachricht der Nachbarn, geschweige denn ein Anruf. Wie auch? In der Siedlung der Olah-Zigeuner am Stadtrand von Kalocsa, wo die asphaltierten Straßen endeten, wo sich ein Dutzend Familien eine Handpumpe für frisches Wasser teilte und die Menschen für ihre Notdurft hinter windschiefen Bretterverschlägen verschwanden, besaß niemand ein Telefon. Doch als just zur Mittagszeit
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