Zigeuner
waren und heute davon lebten, Lehm zu Ziegeln zu formen, die nicht gebrannt wurden, sondern an der Luft trockneten. Nicht zu vergessen die Begegnungen mit den Lautari, Musikern, die mit Surna, Trommel und Zimbel zu Dorffesten und Hochzeiten aufspielten.
Die Besuche bei den bulgarischen Roma glichen Zeitreisen in die Vergangenheit. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert begegneten wir Menschen, die noch nicht einmal im 20. Jahrhundert angekommen schienen und deren rückständige Armut uns ebenso bestürzte wie ihr aufrichtiges Gemüt uns bewegte. Wehmut überkam mich, als die Ahnung zur Gewissheit wurde, dass die meisten Zigeuner mit ihren tradierten Berufen im dritten Jahrtausend keinen Platz mehr finden würden. Die Roma, Überlebenskünstler seit ihrer Ankunft in Europa, mussten erfahren, dass nicht nur die Macht der Märkte gegen sie war, sondern auch die Natur und die zivilisatorischen Zeichen der Zeit.
Die standen ungünstig für Stephan Dimov, seine Frau Ivanka und ihre drei Kinder. Die Familie gehörte nicht nur dem Namen nach zu den Ursari, die Dimovs zählten tatsächlich zu den letzten Familien, die in den Touristenzentren der Balkanstaaten ihren Lebensunterhalt noch mit Tanzbären verdienten. In der Nähe des Badeortes Sosopol am Schwarzen Meer ließ Stephan Dimov seine Bärin Violetta zum Gefiedel der Gadulka tanzen. Doch das Geschäft lief schlecht. »Nur die Deutschen zahlen halbwegs anständig.« Dimov meinte vor allem die Urlauber aus dem Osten Deutschlands, die schon in kommunistischer Zeit ihre Ferien an der Schwarzmeerküste verbracht hatten. Nun reisten viele Touristen aus Westeuropa an. Sie waren missmutiger, applaudierten nicht mehr und warfen bestenfalls ein paar Münzen in den Sammelhut. Am schlimmsten, so Dimov, seien die Asiaten. Sie ließen ihre Videokameras surren, ohne einen Lewa zu bezahlen, während die Amerikaner sich beim Anblick der tanzenden Bärin immer empörten. Natürlich war bekannt, dass die Bärenführer zur Dressur der Tiere grausame Methoden benutzten. Junge Bären wurden auf heiße Eisenplatten gestellt, wobei Musik erklang. Vom Schmerz gepeinigt richteten sich die Tiere auf und tänzelten von einem Bein auf das andere. Später musste nur ein Takt der vertrauten Musik ertönen und die verschreckten Bären drehten sich mechanisch im Kreis. So wie die achtjährige Violetta. Der Bärin fehlten die Zähne, die Klauen hatte man ihr abgeschnitten. »Sonst ist sie für die Menschen zu gefährlich«, sagte Dimov. Er sagte das lächelnd und in aller Unschuld.
Die Dimovs entsprachen keineswegs dem Bild von herzlosen Tierquälern und Bärenschindern. Als Wanderzigeuner lagerte die fünfköpfige Familie in einem Waldstück unter einer löchrigen Zeltplane unter armseligsten Verhältnissen. Nicht besser als ihre Bärin. Stephan Dimov glaubte im Ernst, er würde dem Tier eine Freude machen, wenn er sie kleine Döschen mit Marmelade ausschlecken ließ, die seine Kinder in den Touristenrestaurants abgestaubt hatten. »Violetta gehört zur Familie. Seit Generationen leben wir von Tanzbären. Tierschützer wollen uns das verbieten. Die fragen immer nur nach dem Bären. Wie es uns geht, das haben sie noch nie gefragt.«
Dass die Veränderungen von Wetter und Klima auch Einfluss auf ihre Lebensgewohnheiten nehmen könnten, darüber hatten sich Xoraxane-Roma aus den Bergen um Peshtara nie Gedanken gemacht. Nun erfuhren sie die Wahrheit eines Spruches, der im südbulgarischen Rodopengebirge zusehends an Bedeutung gewann, am eigenen Leib. Ohne Schnee kein Brot. In den vergangenen Jahren hatte es in den Wintern kaum geschneit, die Frühlingsmonate brachten zu wenig Regen, und die Sommer waren zu heiß. Die ausgetrockneten Böden und leeren Stauseen machten nicht nur den Viehhirten und Tabakbauern arg zu schaffen, sondern auch den türkischsprachigen Xoraxane-Familien, die im Herbst in die Wälder zogen, wo sie als Halbnomaden wochenlang in Zelten lebten und Pilze suchten. Umgerechnet fünf Deutsche Mark bezahlten ihnen die Exporteure damals für ein Kilogramm Steinpilze, was ihnen in einer guten Saison erlaubte, Rücklagen für die kalten Wintermonate und die Zeit der Arbeitslosigkeit zu bilden. Nur hatten sie bislang noch keinen einzigen Pilz gefunden. Und es sah nicht danach aus, als würde sich die Lage bessern. Die Lebensmittelvorräte waren aufgebraucht, und die Leute litten Hunger. Die Mütter freuten sich riesig, als wir mit unserem Auto nach Batak fuhren, um für die Kinder eine Kiste
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