Zigeuner
inmitten einer teichgroßen Schlammpfütze ein Volkswagen mit deutschem Kennzeichen hielt, verflogen im Haus Nr. 4 die Zweifel an Rosa Sztojkas Verstandeskraft. Tochter Istvánné sprang uns entgegen, stolpernd in viel zu großen Gummistiefeln.
»Sie hat es gespürt. Sie hat in die Zukunft gesehen. Sie wusste, dass ihr kommt!«
Sohn Gabors Missmut schwand. Er grinste über beide Ohren, tippte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn und murmelte etwas von »Mutters drittem Auge«. Sodann intonierte er im Brustton felsenfester Überzeugung: »Niemand soll je daran zweifeln!« Die Schwiegertöchter nickten. Und erzählten. Hatte Mutter Rosa nicht dereinst der Ungarin Erzsi prophezeit, ihr einziges Kind werde früh unter der Haube sein? Gelacht hatte die Stolze und die Tugenden ihrer sittsamen Tochter gepriesen. Bis Erzsi ihr Kind mit einem Nachbarsbengel verehelichen musste, der dem fünfzehnjährigen Töchterchen hinterm Heuschober einen dicken Bauch gemacht hatte. Und der schneidige Cigán Gobi, der stets so forsch und gut gelaunt daherkam? Hatte Rosa nicht vor allzu gockelhaftem Gehabe gewarnt, sah sie nicht den düsteren Schatten über seinem Glück? Sagte sie nicht, es komme der Tag, da werde er Hand an sich legen? Und knüpfte man ihn nicht zwei Tage später im Wald von Kalocsa vom Ast? Rosa Sztojka legte die Hand aufs Herz: »Genau so war es.« Die Schwiegertöchter nickten erneut. »So und nicht anders.«
Rosa war zweiundsechzig. Sie hockte auf einem Sofa umringt von ihren Enkeln. Hinter ihr blickte von einem grellbunten Wandteppich sanftmütig der bärtige Herrgott herab. »Setzt euch und nehmt einen Kaffee«, forderte sie uns auf. Tochter Istvánné goss gezuckerten Prüttkaffee in Wassergläser und warf noch ein paar Holzscheite in den Kanonenofen. Die Herdplatte glühte. In einem verbeulten Kochpott brodelte heißer Sud, aus dem zwei nackte Hühnerbeine ragten.
»Den sechsten Sinn«, sagte Rosa, »den kann sich niemand verdienen. Er ist eine Gabe Gottes. Er allein gibt und nimmt.«
Und wozu dann die vielen Engel und Heiligenfiguren auf dem Fensterbrett? Und die Gipsmadonna neben dem Ofenrohr? Mutter Rosa lächelte milde über die törichten Fragen.
»Ich bin nur eine alte Zigeunerin, aber glaub mir, Gott sieht zwar alles, aber er tut nicht viel. Ein Mann eben. Deshalb musst Du zur Madonna beten. Sie allein hilft.«
Ganz jung sah Rosa aus, als sie so sprach. Ihre klaren Augen glänzten. Die mädchenhaften Züge in ihrem Gesicht offenbarten ein kindliches Vertrauen, eine Zuversicht, die stärker war als die ernüchternden Tatsachen der Wirklichkeit.
Denn Rosa Sztojka war todkrank. Nach Aufforderung ihrer Schwiegertöchter knöpfte sie schweigend und mit geschlossenen Augen ihre Bluse auf und entblößte ihre Brust. Dicke, unförmige Narben verrieten, wie lieblos Mediziner ihrem Krebs mit dem Messer zu Leibe gerückt waren. Ihre spindeldürren Beine vermochten sie kaum mehr zu tragen. Sie aß nur wenig, seit man ihr im Hospital auch noch den Magen weggeschnitten hatte. Manchmal, wenn die Schmerzen unerträglich wurden, griff Rosa Sztojka zu ihrem Wunderwasser. Das steckte in einer Plastikflaschenmadonna mit einem blauen Krönchen als Schraubverschluss. Die Flasche hatte ihr ein Freund von der jährlichen Wallfahrt der Zigeuner aus dem französischen Pyrenäenstädtchen Lourdes mitgebracht. Und wenn Rosa daraus ein Schlückchen Hoffnung nippte, dann schien es, als spiegele ihr gequälter Leib nicht nur ihre eigene, sondern auch die leidvolle Geschichte ihres Volkes wider.
Istvánné hatte frisches Brot besorgt. Das aßen wir zu einer kräftigen Hühnersuppe. Rosa stippte nur ein wenig Weißbrot in den Sud. Ein paar Wochen noch, vielleicht noch ein paar Monate, allein der Herr im Himmel wisse, so Rosa, wie viele gemeinsame Tage er ihr mit ihrer großen Familie noch schenken werde.
»Vergiss mich alte Zigeunerin nicht«, lachte sie beim Abschied, nicht ohne mir mit ihrem sechsten Sinn noch einen Einblick in mein Schicksal zu gewähren. Unter den Augen des Guten Hirten vom Wandteppich griff sie unter ein Sofakissen und fingerte ihr abgenutztes, in zig Plastiktüten eingewickeltes Kartenspiel hervor.
Ich zog drei Karten.
»Achte gut auf dich«, sprach sie, als sie die Zeichen deutete. »Hüte dich vor der Rache der Braungelockten mit den dunklen Augen, die dich mit ihrer Eifersucht verfolgt. Und pass auf, dass du dir niemals die Finger an schmutzigem Geld verbrennst. Zeuge für deine Familie lieber noch
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