Zigeuner
Urheberquelle im Umfeld von Websites nationalistischer Jobbik-Anhänger auftauchte, glaubte ich zunächst, mein Freund Imre sei einer raffinierten Fälschung aufgesessen. Doch die Vermutung, es handele sich bei dieser Liste um plumpe Hetzpropaganda, löste weder mein Erschrecken auf, noch verschwand die Furcht, die minutiösen Schilderungen der Taten könnten sich als zutreffend erweisen. Mehr noch als die Fülle der Straftaten schockierte die entfesselte Gewalttätigkeit. Ihre Rohheit erschütterte das Fundament meiner Überzeugungen, die ich zuvor mit unbeirrter Selbstverständlichkeit vertreten hatte.
Vor Jahren hatte der Playboy eine längere Bildstrecke mit meinen Roma-Fotografien sowie ein ausführliches Interview über meine Erfahrungen unter Zigeunern abgedruckt. Auf das Problem der Kriminalität angesprochen, hatte ich damals geantwortet: »Mit schwerer Kriminalität haben Zigeuner nichts zu tun. In vielen Fällen ist es einfach Armuts-Kriminalität, die es in allen Ländern, in allen Kulturen gibt.«
Für die neunziger und die Jahre nach der Jahrtausendwende war diese Einschätzung sicherlich zutreffend. Wenn allerdings diese zweite Liste keine Erfindung einer pervertierten Phantasie war, dann musste ich meine Ansichten revidieren. Dann hatten sich die Zeiten geändert. In nur wenigen Jahren. Erwies sich dieses ominöse Dokument in der Sache als seriös, dann hatte die Entwurzelung der Roma grausame und extrem verstörende Taten hervorgebracht.
Demnach hatten im nordungarischen Pásztó drei minderjährige Roma den Ungarn István A. gefoltert, damit dieser verriet, wo er sein geerbtes Vermögen versteckt hielt. Den Leichnam des gequälten Mannes zerstückelten sie mit einer Säge. In dem Dorf Makó wurde ein Roma beschuldigt, die 18-jährige Henrietta Pénzes vergewaltigt, an einen Baum gefesselt und anschließend angezündet zu haben. Die Frau starb an ihren schweren Verbrennungen. Der Täter war fünfzehn, ebenso wie der Jugendliche, der in dem Dorf Szalonna eine 93-jährige Frau ausgeraubt und ermordet hatte. Im nordungarischen Gadna soll sich ein junger Roma an einer 88-Jährigen vergangen und ihr die Augen ausgestochen haben, bevor er den Kopf seines Opfer mit einer Axt zertrümmerte und der Frau die Beine abschnitt.
Bislang hatte ich den Lynchmord an dem Erdkundelehrer Lajos Szögi in Olaszliszka als abnormen Einzelfall angesehen, als kriminelle Entgleisung von Menschen, die in ihrer Raserei nicht wussten, was sie taten. Doch stimmte dieses Dokument, dann gab es in Ungarn viele Lajos Szögis. Auffallend oft wurden betagte Menschen die Opfer, Männer und Frauen über siebzig, achtzig, gar neunzig Jahre alt. Selbst eine 99-Jährige raubte man aus, bevor man sie erschlug. Greise Witwen wurden skrupellos vergewaltigt. Rentner, die sich dagegen wehrten, dass man ihnen die letzte Habe stahl, wurden zu Tode gepeinigt, erschlagen, erwürgt oder erstochen. Und getreten. Mit dem Furor jener Mordswut, die der Spiegel jugendlichen Gewalttätern in Deutschland attestierte, traten Täter in Ungarn ihre Opfer tot. Immer wieder auf den Kopf. Viele der Delinquenten waren erst vierzehn, fünfzehn Jahre alt, wenige älter als zwanzig oder fünfundzwanzig. Der Bursche, der in Tuzsér eine Ungarin schlafend in ihrem Bett niederstach, weil die junge Frau ihn tags zuvor gerügt hatte, soll zwölf gewesen sein. Zu jung, um zu verantworten, was er tat, doch alt genug, um ein paar Tropfen in jenes Fass zu füllen, von dem Viktória Mohácsi sagte, die Messerstecher in einer Tanzbar in Veszprém hätten es zum Überlaufen gebracht.
Wie sollte ich mit den Informationen dieser zweiten Liste umgehen? Manchmal hoffte ich, sie wäre ein Fake, ein faschistoides Hirngespinst. Dann wiederum wünschte ich, mein Freund Imre hätte mich nie auf dieses Dokument aufmerksam gemacht. Imre hatte mir den Schutzmantel der Unwissenheit genommen. Er hatte mir die Unschuld des naiven Blicks geraubt; die Selbstgewissheit des unbeirrten Urteils, das a priori wusste, wer gut und wer böse ist, wer Opfer und wer Täter zu sein hatte.
Nun birgt die Aufzählung von Straftaten, die von ethnischen Minderheiten begangen werden, zwangsläufig die Gefahr, Phänomene kriminellen Verhaltens mit einer vermeintlichen Wesensart der Täter zu verknüpfen. So suggeriert der Begriff »Zigeunerkriminalität« einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer spezifischen Ethnie und spezifischen Verbrechen. Aber es ist nicht das fragwürdige Privileg von Zigeunern,
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