Zigeuner
Bundesrepublik. Will sagen, ich hatte Schablonen der Welterklärung im Gepäck, Interpretationsmuster, die mir von Kindheit und Jugend an vertraut waren und die sich bisweilen wider bessere Einsicht hartnäckig noch im Erwachsenenalter behaupten wollten. So war ich mit einem parteipolitischen Lagerdenken aufgewachsen, das weltanschauliche Optionen immer farblichen und räumlichen Kategorien zuordnete. Schwarz und Gelb, Rot und Grün und als Unfarbe das hässliche Braun. Die Verortungen auf der Palette des politischen Farbspektrums steckten Frontlinien und Grenzmarken ab, sie entschieden über Freund und Feind, über Sympathie und Antipathie, über potentielle Partnerschaften, strategische Kooperationen und absolute No-go-Bündnisse. Im Spannungsfeld der Positionsbestimmungen zwischen Rechts und Links mied der Demokrat die Extreme. Außen saß immer der Gegner. Und da sitzt er noch heute. Der Demokrat drängt ins Zentrum, zur bürgerlichen Mitte. Auf dem sicheren Terrain der vermeintlichen Mehrheitsmeinung, wo sich die Farben zu trübem Grau vermischen, wird entschieden, wer im demokratischen Diskurs den Ton angibt, wessen Stimme geduldet wird und wer das Recht auf Gehör verwirkt hat.
Den Zigeunern war ein politisches Schubladendenken fremd, wenn nicht suspekt. Um nicht einseitig informiert zu sein, hatte mir Viktória Mohácsi sogar angeboten, für mich in Budapest Gesprächstermine mit Jobbik-Politikern zu arrangieren. Mit dem politischen Gegner! Solch eine Geste wäre in Deutschland undenkbar.
Im Grunde interessieren die Roma unsere etablierten Rituale der Politik nicht. Wenn sie wie in Rumänien Hunderte von Parteien und Organisationen gründeten, war das eher ihrer Stammesmentalität geschuldet als programmatischen Abgrenzungen. Bei vielen Zigeunern in Osteuropa hatte ich ihre freie und unabhängige Art zu denken schätzen gelernt. Sie waren lebensklug und besaßen die Fähigkeit, die Welt gegen den Strich zu lesen, ein Talent, das auch viele gebildete Ungarn teilten. Die propagandistischen Ergüsse sozialistischer Zentralkomitees hatten sie geschult, die hohlen Signifikanten der Meinungsorthodoxie subversiv zu deuten und mit mehr oder weniger deftigem Sarkasmus zu kommentieren. Nirgends sonst als in Budapest traf ich so viele Meister in der Kunst, den Wahrheitsgehalt politischer Deklarationen nicht daran zu messen, was gesagt, sondern was verschwiegen wurde. Die Freigeister hatten sich aus der Enge des politischen Navigationssystems zwischen links und rechts befreit und schielten nicht mehr danach, ob ihr Denken massenkompatibel war. Sie waren auf erfrischende Weise undeutsch.
Als mich Szilveszter Póczik in das Nationale Institut für Kriminalistik in einer geschichtsträchtigen Hinterhofvilla in Budapests Maros-Straße einlud, ahnte ich nicht, dass ich Stunden in seinem kargen Büro verbringen würde. Ich mochte den zuvorkommenden Mittfünfziger auf Anhieb. Er gehörte zu den anregenden Menschen, bei denen in Gesprächen der Kaffee kalt wird. Äußerlich hemdsärmelig strahlte der promovierte Historiker, Linguist und Soziologe die kompetente Verbindlichkeit jener Intellektuellen aus, die sich ihr Wissen nicht nur angelesen, sondern durch Erfahrung und Denken erworben hatten. Póczik parlierte neben einem halben Dutzend anderer Sprachen auch in eloquentem Deutsch. Noch in kommunistischer Zeit hatte er in Debrecen und an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald Geschichte und Soziologie studiert. In den Wendejahren war er Stipendiat am Institut für Zeitgeschichte in München, bevor ihn die Generalstaatsanwaltschaft in Budapest in ihre Forschungsabteilung holte. In Europa gilt er als Kenner der Strukturen des organisierten Verbrechens, und er avancierte zum Experten für politischen Extremismus, ethnische Minderheiten und rassistische Gewaltkriminalität.
»Die Roma-Frage ist in Ungarn eine lebenswichtige Frage geworden. Seit den siebziger Jahren verzeichnen wir ein explosives Bevölkerungswachstum. Seitdem hat sich die Zahl der Roma von 300 000 weit mehr als verdoppelt. Ihre Integration ist ein unbedingtes Muss«, erklärte Dr. Póczik, nicht verhehlend, dass im freien Ungarn zwei Jahrzehnte zur Integration der Zigeuner ungenutzt verstrichen waren. Schlimmer noch. Eine verkorkste Minderheitenpolitik hatte das ethnische Zerwürfnis beschleunigt und eine brennende Lunte an einen Sprengstoff gelegt, dessen Brisanz beständig anschwoll. Szilveszter Póczik warnte. Nicht als Kriminalist, nicht als
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