Zigeuner
Menschen, die wehrlos auf dem Boden liegen, den Kopf zu zertreten. Die bestialisch massakrierten Toten in den Bandenkriegen um die weltweiten Rauschgiftmärkte, die entsetzlichen Frauenmorde in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez mit Hunderten von verstümmelten Leichen, die abgedrehten Gewaltorgien enthemmter Psychopathen, die Exzesse religiöser Eiferer, ethnischer Säuberer oder von Soldaten in Extremsituationen zeigen, dass Menschen aller Kulturen unter bestimmten Bedingungen zu allen erdenklichen Grausamkeiten fähig sind. Männer, die zu Mördern, Schindern und Folterern wurden, wären zu anderen Zeiten an anderen Orten unter anderen Verhältnissen vielleicht ihren Lebtag lang umgängliche Kerle geblieben.
Aber weshalb beließen es die beiden jungen Roma im siebenbürgischen Kovászna nicht dabei, den Ungarn József Paltán einfach nur zu bestehlen? Warum mussten sie dem 84-jährigen Alten auch noch die Rippen brechen und seinen Kopf mit einem Schraubenzieher zerstechen? In dem ominösen Katalog mit Roma-Gewalttaten rangierte das qualvolle Sterben des József Paltán unter Nummer 97.
Weil bei solchen Fällen von Hasskriminalität rassistische Motive nicht ins Auge springen, interessieren sich internationale Menschenrechtler nicht dafür. Anstatt sich die unbequeme, schmerzende Frage zu stellen, was manche Zigeuner erlebt haben müssen, um solche Taten zu begehen; anstatt deren ungarische Nachbarn zu fragen, wie sie mit ihrer Furcht und ihrer Wut umgehen, schweigen sie. In der westeuropäischen Presse fand lediglich der Mord an Marian Cozma, Listennummer 110, aufgrund der Prominenz des Handballers leidliche Beachtung. Ansonsten beharrt die kommentierende Berichterstattung darauf, eine Kriminalität der Zigeuner existiere nur »angeblich« und sei eine propagandistische Erfindung rechtsextremer Politiker, der nationalistischen Jobbik und paramilitärischer Garden.
Der österreichische Publizist Karl-Markus Gauß, der für sein verständiges Buch Die Hundeesser von Svinia tief in das soziale Milieu der slowakischen Zigeuner eingetaucht ist, schrieb zur Lage in Ungarn in der Wochenzeitung Die Zeit, brachiale Rechtsextremisten klagten »umso empörter über die Kriminalität der Roma, je öfter diese selbst zum Opfer rassistischer Anschläge« würden. Was jedoch, wenn der geschätzte Karl-Markus Gauß in diesem Punkt irrte? Was, wenn es sich genau umgekehrt verhielt? Wenn diese beklemmende Liste keine Lüge war, dann wurden allein zwischen 2006 und 2009 mehr als dreißig Ungarinnen und Ungarn von Roma ermordet. Ob in Cegléd, Kerekhegy, Kunszentmiklós, Öcsöd, Ózd, Polgar, Sárospatak, Tarnabod, Tiszacsege, Szalonna, Somogyzsitfa, Vásárosnamény oder Zagyvarékas, stets schockierte die Hemmungslosigkeit der Täter.
Die Liste ließ mir keine Ruhe. Wenn jemand wirklich Erhellendes über die »angebliche Zigeunerkriminalität« zu erzählen wusste, dann waren das die Roma selbst, ihre ungarischen Nachbarn und der befreundete Kulturökologe Professor Sándor Györi-Nagy, der über Jahre hinweg das Zusammenleben der beiden Volksgruppen erforscht hatte. Nicht zu vergessen Szilveszter Póczik vom Nationalen Institut für Kriminalistik in Budapest. Irgendwo hatte ich gelesen, dass er das angespannte Verhältnis zwischen radikalisierten Ungarn und Roma mit einem »brennenden Haus« verglichen hatte, das schon »zur Hälfte abgefackelt« sei. Von einem Kriminalhistoriker, der seinem Heimatland attestierte, in der sozialen Frage seit der Wende komplett versagt zu haben, durfte ich annehmen, dass er Klartext reden würde. Zu Recht. Um es vorweg zu sagen: Als ich eine Kopie der Internetdokumente aus der Tasche zog, warf Szilveszter Póczik nicht einmal einen Blick auf die Papiere.
»Diese Listen sind mir bekannt«, sagte er.
Und? Stimmen sie?
»Ja. Und sie könnten beliebig ergänzt werden.«
KAPITEL 7
Das Versagen der Politik
Ein erhellender Besuch in Ungarns Institut für Kriminalistik – Zigeunerkriminalität: ein Kampfbegriff – Sprachtabus und Denkverbote – Der Aufstand der Realität – Hühnerdiebe oder organisiertes Verbrechen? – Die Früchte des Zorns und die Gewalt der Ghettoisierten – Die Allianz des Schweigens – Ein Woiwode, der seinem Volk die Leviten liest – Kálló: ein sterbendes Dorf in Angst – Professor Györis Theorie des Konfrontationismus
Nun reiste ich nicht nur als Berichterstatter nach Ungarn, sondern auch als deutscher Staatsbürger, aufgewachsen in der
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