Zigeuner
Strukturen, sondern in familiären Netzwerken. Banden- und Serienkriminalität verzeichnete man zusehends bei Wohnungseinbrüchen und dem sprunghaft angestiegenen Diebstahl von Buntmetallen. Geklaut wurden nicht nur tonnenweise Kupferkabel und Dachrinnen, auch bronzene Statuen, Grabschmuck auf Friedhöfen oder Kirchenglocken. Immer wieder wurde die teure Schaltelektronik von Eisenbahnschienen und Stellweichen herausgerissen, selbst komplette Signalanlagen an Bahnübergängen wurden gestohlen, was die öffentliche Sicherheit enorm gefährdete und den Unmut unter der Bevölkerung erregte.
Von der Gewohnheit, derlei Vermögensdelikte als Armutskriminalität zu etikettieren, hatte sich Póczik verabschiedet. »Die Bezeichnung Überlebenskriminalität erweckt den Eindruck, als würde nur so viel gestohlen, wie man zur eigenen Existenzsicherung braucht. Wenn jedoch dutzendköpfige Banden mit Lastwagen anrücken und nachts flächendeckend ganze Felder mit Paprika oder Erdbeeren abernten, dann sind das geplante Seriendiebstähle von organisierten Kriminellen.«
Szilveszter Póczik verstand die Straftaten der Zigeuner nicht als ein ethnisches, sondern als ein soziales Problem. »Die Kriminalität der Roma ist eine beunruhigende Angelegenheit, zweischneidig«, sagte er, einen Augenblick innehaltend, zögernd in dem Bewusstsein, nun eines dieser Minenfelder zu betreten. »Es gibt Auffälligkeiten bei den Tätern. Eigentümlichkeiten, die nicht zu übersehen sind. Eine enthemmte Brutalität, auch bei Konflikten untereinander, die Zerstörungswut, die Eskalation der Gewalt in Gruppen und aggressive emotionale Überreaktionen. Ich will nicht behaupten, diese Phänomene würden nicht auch bei anderen Tätergruppen auftreten. Aber definitiv nicht in dieser Häufigkeit.«
Die verstörende Gewalt war kein Zufall. Den Lynchmord an dem Geografielehrer Lajos Szögi hatte der Roma-Bürgerrechtler Aladár Horváth als »brutale Form eines Ghettoaufstandes« bezeichnet, wobei er die Siedlung von Olaszliszka mit einem amerikanischen Schwarzenviertel verglich, in das sich ein Fremder verirrt, der daraufhin umgebracht wird. Für mich war offensichtlich, dass in Ungarn ein verhängnisvoller Same aufgegangen war, der in den postkommunistischen Wendejahren gestreut worden war und nun keimte. Eine ungute Saat aus ökonomischer Ausgrenzung und sozialer Missachtung, aus Verwahrlosung, haltloser Amoralität und alimentierter Lethargie. Nun war die Zeit reif, das Unheil zu ernten, die Früchte des Zorns. Oft wurden die Opfer von Überfällen gequält und erniedrigt. Bestohlene verzweifelten nach Einbrüchen weniger an dem Verlust von Geld und Wertsachen, sondern daran, dass ihre Heime verwüstet waren. Immer öfter wurden Menschen nach harmlosen Verkehrsunfällen angegriffen, schwer verletzt, totgeschlagen gar. Selbst Polizisten, Ärzte und Rettungssanitäter, aber auch Kindergärtnerinnen, Schulpädagogen und Lehrer wurden von wütenden Roma beschimpft und verprügelt.
Kein Mordopfer jedoch hatte so eine Präsenz im Bewusstsein der Ungarn wie der Lehrer Lajos Szögi. Sicherlich war den Totschlägern nicht bewusst, dass sie in ihrem Furor nicht nur einen Menschen umbrachten, sondern ihren Teil dazu beitrugen, den Riss durch die entzweite Gesellschaft noch weiter zu vergrößern. Auf der einen Seite der Lehrer, der aus dem Auto springt, um einem verletzten Mädchen zu helfen, und dann totgetreten wird; auf der anderen Seite der aufgeheizte Mob. Die Tat hat verheerende soziale Auswirkungen. Etwa auf eine unbefangene Hilfsbereitschaft. Seit dem Mord von Olaszliszka braucht es in Ungarn schon etwas Mut, um in einer ähnlichen Situation noch aus dem Auto zu steigen.
Allen Sprachregelungen zum Trotz wurde mit dem Tod Lajos Szögis die Kategorie der Zigeunerkriminalität in Ungarns Umgangssprache wieder hoffähig. Die Ächtung des Begriffs und seine Verbannung aus der offiziellen Terminologie hatten eine Leerstelle hinterlassen, eine Lücke zwischen der Alltagserfahrung und der Tabuisierung ihrer Benennung. Rechte Populisten konnten den semantischen Hohlraum nur deshalb mit antiziganen Ressentiments füllen, weil liberale Politiker und Medien den Eindruck erweckten, als hätten sie mit einem Begriff auch eine reale Bedrohung zum Verschwinden gebracht. Die Illusion funktionierte so lange, bis es die politische Korrektheit mit der Wirklichkeit zu tun bekam. Es kam zu einer Rebellion der Erfahrungen, zu einem Aufstand der Fakten, bei dem, so Póczik, »die
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