Zigeuner
Versicherungsschutz fuhren. »Rassistische Lehrer! Rassistische Ärzte! Rassistische Polizisten!«, rief Lakatos aus. »Was soll das! Sind denn alle in diesem Land Rassisten?«
Just als gegen den Vorsitzenden der Selbstverwaltung der ungarischen Roma wegen der Veruntreuung von EU-Fördergeldern ermittelt wurde, attestierte Lakatos den ziganen Führern, sie gehörten allesamt vor Gericht gestellt und inhaftiert. Sie seien dafür verantwortlich, dass die Roma seit zwanzig Jahren in einem Zustand der Lethargie verharrten. »Ich habe keinen Einzigen der nationalen Zigeunerführer gesehen, der gesagt hätte, kommt, lasst uns zusammensetzen und darüber reden, was wir für unsere Familien tun können, für unsere Kinder und Enkelkinder.«
In bis dato unbekannter Offenheit benannte Lakatos jenes Phänomen, das die Leiter der ziganen Lokalverwaltungen stets banalisierten: »Sie sagen, es gibt keine Zigeunerkriminalität. Aber wenn zehn von zehn, wenn zwanzig von zwanzig Straftätern Zigeuner sind, wie soll man das denn sonst nennen?« Als er ausgesprochen habe, natürlich gebe es in Ungarn eine Zigeunerkriminalität, hätten dreißig Prozent der Cigány seinen Kopf gefordert. »Aber das Problem ist nicht meine Behauptung, das Problem ist, dass wir Zigeuner nichts gegen die Kriminalität unternehmen. Ich war in Dörfern, in denen die Nichtzigeuner nur dann die Kirche besuchen können, wenn der Mann am Morgen geht und seine Frau am Nachmittag. Denn wenn sie beide zugleich ihr Haus verlassen, werden sie ausgeraubt … Dagegen müssen wir endlich etwas unternehmen. Lasst unsere zehn-, zwölfjährigen Kinder die Jugendgefängnisse besuchen. Sie sollen sich das mal anschauen, wie das Leben dort ist …«
Dann sagte Attila Lakatos etwas, was meines Wissens noch nie ein Woiwode öffentlich gesagt hatte. Er kündigte den Common Sense darüber auf, wer nach den Regeln der politischen Korrektheit als Täter und wer als Opfer zu gelten habe. Ein Tabubruch. Weniger in Ungarn als in Westeuropa, wo der Diskurs über die Roma von Theoretikern dominiert wird, die vermutlich wenig Zeit in Roma-Gemeinschaften verbracht haben. »Es gibt keine Roma- oder ›Zigeuner-Kriminalität‹«, erklärt der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann recht regelmäßig. »Ständig wird über die ›Roma-Frage‹ berichtet, ohne zu erwähnen, dass für sie nicht die Roma, sondern die Nichtroma verantwortlich sind. Nicht die Roma sind das Problem. Das Problem ist die Roma-Feindschaft.«
Glaubt man hingegen Attila Lakatos, dann verdreht Professor Wippermann Ursache und Wirkung. Lakatos bekundete, nicht der ungarische Rechtsruck habe die Gewalt gegen die Roma hervorgerufen, vielmehr habe die Gewalt der Cigány das Aufblühen des rechten Radikalismus erst begünstigt. »Ich bin sicher, wir Zigeuner selber waren bei dieser Garde, bei diesen Monsterkreaturen, die Geburtshelfer. Umso mehr wir gestohlen haben, umso mächtiger wurde die Garde. Wenn man mir vier Mal meine Hühner, meine Kartoffeln und meinen Weizen stehlen würde, dann würde auch ich früher oder später der Garde beitreten.«
Attila Lakatos beleuchtete zwar die verschwiegene Seite der Wahrheit, war aber seinem Naturell entsprechend etwas über das Ziel hinausgeschossen. Zumindest in einem Punkt. Nicht nur die Eskalation der Kriminalität hatte die Garden genährt. Hinzu kam ein weiterer, ein entscheidender Faktor: die Abwesenheit von Justiz und Polizei, die bei Konflikten nicht intervenierten und bei dem Schutz der Bürger versagten. Ganz gleich ob Gadsche oder Roma. Für Szilveszter Póczik war der weitgehende Verzicht auf das staatliche Gewaltmonopol Konsequenz einer »falsch verstandenen Liberalität«. Bei Delikten, deren materieller Schaden unter einer Wertgrenze von umgerechnet 80 Euro lag, waren die Polizeibehörden angehalten, gar nicht erst zu ermitteln. Bis die ungarische Dorfkultur vor die Hunde ging. Nur währte das Machtvakuum, das die Liberalisierung hinterließ, nicht lange. Es wurde gefüllt von der populistischen Jobbik und den Garden in Schwarz.
Bei den ungarischen Parlamentswahlen 2010 erreichte die Jobbik auf Anhieb einen Stimmenanteil von knapp siebzehn Prozent. Den politischen Rechtsruck in Ungarn erklärte das Nachrichtenmagazin Focus als Folge einer antiziganen Stimmungsmache wegen kleinkrimineller Bagatellen, wobei das Journal eine Frontlinie ausmachte. Auf der einen Seite Neofaschisten, die in Hundertschaften in Reih und Glied durch die Dörfer marschierten,
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