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Zigeuner

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Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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Wahrheitswert erschließt sich darüber, was sie verschweigen. Verschwiegen wird, dass in den drei Monaten vor der Mordnacht in Tatarszentgyörgy im März 2009 mindestens acht oder neun Ungarn von zumeist jungen Roma erschlagen oder erstochen wurden. Die Opfer waren, bis auf zwei Ausnahmen, betagte Männer und Frauen, die meisten achtzig Jahre und älter. Verschwiegen wird der beklemmende Umstand, auf den der Kriminalsoziologe Szilveszter Póczik hinweist. Jeder zweite Erwachsene und drei von vier jugendlichen Delinquenten in den ungarischen Haftanstalten sind Roma. Und das bei einem Bevölkerungsanteil von acht Prozent. Verschwiegen wird, dass die interethnische von der intraethnischen Gewalt bei weitem übertroffen wird. Die meisten Opfer der Roma sind selbst Roma, verprügelte Frauen, missbrauchte Mädchen und ausgebeutete Kinder. Und verschwiegen werden letztlich auch die Stimmen jener Zigeuner, die aus dem Kartell des Verschweigens aussteigen. Stimmen wie die von Attila Lakatos.
    Lakatos ist ein Roma-Führer in dem Verwaltungsbezirk Borsod-Abaúj-Zemplén. In dem Komitat im Nordosten Ungarns mit dem landesweit höchsten Anteil an Zigeunern gilt er als Autorität, ein Woiwode traditionellen Schlages, der mit seiner freimütigen Art und mit unorthodoxen Aktionen von sich reden macht. Als im nordungarischen Szikszó uniformierte Gardisten strammstanden und als die »wahren Ungarn« gegen die Zigeuner agitierten, traten Hunderte erboster Cigány zu einer Gegendemonstration an. Die Konfrontation drohte gefährlich zu eskalieren. Lakatos entschärfte die brenzlige Lage auf friedliche Weise. Als Zeichen, dass auch die Zigeuner wie stolze Ungarn fühlten, sangen er und seine Gefolgsleute die Nationalhymne. Immer wieder hatte Lakatos die Verelendung seines Volkes angeprangert, weil er einsah, dass die soziale Katastrophe allein durch die Eingliederung der Roma in die schulischen Bildungs- und die ökonomischen Arbeitsprozesse zu beenden ist. Weil Lakatos nicht verschwieg, was er sah, wetterte er gleichermaßen gegen die ausufernde Straffälligkeit in den eigenen Reihen. Bekannt dafür, seinen Leuten die Leviten zu lesen, warnte er gar vor einem Bürgerkrieg, weil die Magyaren es irgendwann nicht mehr hinnehmen würden, ständig bestohlen zu werden.
    Um Attila Lakatos zu beschreiben, muss ich ein Klischee bemühen, dass mir von Kindesbeinen an vertraut ist, seit aus der Musiktruhe meines Onkels Der Zigeunerbaron von Johann Strauss tönte. Lakatos, er möge mir den Vergleich verzeihen, entsprach ziemlich exakt jenem Bild, dass ich mir in meiner kindlichen Phantasie von dem reichen Schweinefürsten Zsupán machte, dessen Fach nach eigenem Bekunden nie das Schreiben und das Lesen war. In meiner Vorstellung musste der Operetten-Bariton ein wahrhaft gestandener Mann sein: erdig und ehrlich, großspurig und eine Spur grobschlächtig, gewitzt und schlitzohrig, mit stolzer Brust, weitem Herzen und prahlerischem Mundwerk. Kurzum, ein Zigan, wie er im Buche stand. Zumindest früher einmal, als solche Persönlichkeiten noch nicht als romantisierendes und antiziganes Zerrbild der Dominanzkultur entlarvt waren.
    »Itt az idö« stand als Motto an dem Rednerpult, als Attila Lakatos an das Mikrofon trat und vor einem Dutzend ungarischer Staatsflaggen eine wahrhaft unglaubliche Rede hielt. »Itt az idö«, »Die Zeit ist gekommen«, war im ungarischen Parlamentswahlkampf 2010 das Motto des Bundes Junger Demokraten Fiatal Demokraták Szövetsége, kurz: Fidesz. Mit prächtigem Schnauzbart, im lässigen Jackett und mit offenem Hemdkragen sprach Lakatos vor hochrangigen Parteimitgliedern und hinterließ einen sichtbar beeindruckten und nachdenklichen Victor Orbán, der wenig später als Ministerpräsident die politische Achse Ungarns mächtig nach rechts verschieben sollte. Lakatos redete Klartext, selbstkritisch und sehr, sehr selbstbewusst.
    Die Ansprache dauerte nur wenige Minuten. Doch die reichten zu einer machtvollen Brandrede, zu einem aufrüttelnden Weckruf an sein eigenes Volk, der nur eine Botschaft hatte: den Opferstatus aufzugeben und endlich einmal die Ursachen des Dauerelends nicht bei der ungarischen Mehrheit zu suchen, sondern bei sich selbst. Lakatos wetterte gegen die Unsitte, jeden als »Rassisten« zu beschimpfen, der einem nicht in dem Kram passe: Lehrer, die einem Zigeunerkind einen Tadel gaben; Ärzte, die einen Rom nicht vom Krebs heilen konnten; Polizisten, die Roma das Auto stilllegten, weil sie ohne

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