Zigeuner
Garten unter einem Nussstrauch lag der abgeschnittene Kopf des Schweines. Damit hatten die Diebe nichts anfangen können und ihn weggeworfen. Man rief nach der Polizei. Zwei Beamte erklärten, man könne in der Angelegenheit nichts unternehmen. Die Suche nach den Tätern würde sich sowieso im Nichts verlieren.
»Wir fühlten uns für dumm verkauft«, so Györi-Nagy. »Jeder sah, dass Blutspuren und Fußabtritte im Schnee über ein Feld führten. Jeder wusste, dass dort Roma-Familien wohnten, die vom Diebstahl lebten. Zugleich wussten wir, dass die Polizisten ihrer Dienstanweisung folgten, vermeintlichem Mundraub nicht nachzugehen. Wie immer in solchen Fällen. Verstehen Sie! Das ist die Politik des Konfrontationismus. Wo Unrecht aus politischen Motiven kein Unrecht mehr ist, wird das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zerstört. So entstehen Hassverhältnisse.«
Zehn Jahre zuvor, bestätigten die Bewohner von Kálló, habe es solche Zwietracht zwischen den Ungarn und den Zigeunern nicht gegeben. Sie sei erst in den Jahren der sozialliberalen Politik gewachsen. Mit einer fatalen Konsequenz: Weil der Staat die Kleinkriminellen gewähren ließ und seine Bürger nicht schützte, gerieten die redlichen Zigeuner mit in einen Strudel der Sippenhaft. »Man hat ignoriert«, so Györi, »dass mit jedem Übeltäter, der gefasst und bestraft wird, auch ein zu Unrecht Verdächtigter entlastet wird.«
Die Magyaren aus Kálló sprachen Sandor Györi-Nagy respektvoll mit »Tanár úr« an, »Herr Lehrer«. Die Cigány, egal ob alt oder jung, freuten sich wie die Kinder über ihren »Sanyi bácsi«, ihren »Onkel Sandor«. Seit sechs Jahren wohnte er nicht mehr im Dorf, doch hatte er sich durch sein Wohlwollen mit solcher Präsenz in den Herzen der Roma eingeprägt, dass manche Stein und Bein schworen, ihn erst vor wenigen Tagen noch gesehen zu haben. Männer wie Jozsef Picacz.
Der 60-Jährige lebte mit seiner Frau Margid sowie einigen ihrer Söhne mitsamt Schwiegertöchtern und Enkelkindern in einem ausrangierten Campingwagen mit Barackenanbau am oberen Ende der Ferenc-Deac-Straße, die ausschließlich von Roma bewohnt wird. Auf meine Frage, warum hier kein einziger Garten bewirtschaftet werde, sprudelten alle gleichzeitig los, diebische Cigány trügen Schuld. Nicht alle natürlich! Aber einige Familien im Dorf würden alles klauen, was ihnen brauchbar scheine. »Nicht die Alten! Nicht meine Generation«, gab mir Picacz sein Ehrenwort. »Die jungen Leute stehlen. Es ist schlimm geworden. Sie haben vor nichts mehr Respekt. Der Unterschied zwischen Mein und Dein ist ihnen egal.« Die Picaczs waren eine der letzten Familien, in deren Garten noch zwei Schweine grunzten. Sie hatten sogar Namen. Milan und Margarethe. »So wie meine Taufkinder«, meinte das Familienoberhaupt. Abends wurden die Tiere in einem Verschlag verbarrikadiert. »Ganz nah am Haus. Damit meine Söhne sofort hören, wenn Diebe kommen. Früher, als hier noch Ungarn wohnten, wurde kaum gestohlen. Da haben die Gärten geblüht.«
2003 gaben die Gemeindebücher von Kálló die Einwohnerzahl mit 1731 an. Neun Jahre später hatten über zweihundert Ungarn ihr Heimatdorf verlassen. Aber auch tüchtige Roma-Handwerker waren fortgezogen. Sie leben heute integriert in Aszód und Kartal. 2003 war auch das Jahr, in dem Györi-Nagy mit seinen Tonbandaufnahmen begann, nicht ahnend, dass er mit seinen Aufzeichnungen den Niedergang eines Dorfes dokumentieren würde. Sein erstes Gespräch führte er mit einer Witwe, die damals von einem jungen Rom vergewaltigt worden war. »Die Frau hatte um Hilfe gerufen und den Burschen angezeigt, obwohl er ihr gedroht hatte, sie zu töten und in den Brunnen zu werfen«, erzählte Györi. Der Täter wurde gefasst und für einige Monate inhaftiert. Nach seiner Entlassung drohte er, die beiden Söhne der Frau umzubringen. Die Männer verzichteten auf eine Anzeige. »Aus Angst«, so Györi. »Der Vater des Vergewaltigers war ein Mörder, der nach der Wende bereits eine Haftstrafe verbüßt hatte. Zudem saßen seinerzeit zwei weitere Roma aus Kálló wegen Mordes im Gefängnis.« Deshalb hatte der Ortsvorsteher bei Strafanzeigen gegen Zigeuner Zurückhaltung angemahnt. Offiziell, um die Konflikte nicht eskalieren zu lassen. Inoffiziell habe der Mann, wie Zeugen glaubwürdig versicherten, nicht enden wollen wie sein Vorgänger. Der war erstochen worden.
In Kálló regierte die Furcht. Sie hatte sich hinter verriegelten Türen versteckt,
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