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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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eingebrochen, ständig werde sie bedroht, weil sie melden müsse, wer illegal Strom und Wasserleitungen anzapfe.
    Um einen Irrtum zu vermeiden: Der Graben, der Kálló entzweite, verlief nicht allein zwischen den Ungarn und den Zigeunern. Er spaltete auch die etwa sechshundert Cigány, deren Zahl schneller gewachsen war, als das Dorf verkraftet hatte. In den letzten Jahren der sozialistischen Volksrepublik stammten drei Prozent der Jungen und Mädchen im Kindergarten aus Roma-Familien. Nun waren es sechsundsiebzig Prozent. Nur drei der Kinder lebten in Familien, die keine Sozialhilfe bezogen. Der harte Kern der Kriminellen im Dorf beschränkte sich auf etwa ein gutes Dutzend Personen. Jeder kannte sie. Gegen eine sehr gefährliche Familie, die ihre Nachbarn terrorisierte und deren Oberhaupt drohte, er werde alle abstechen, hatten die Anwohner in der Hunyadi-Straße gerade eine schriftliche Beschwerde an die Gemeinde geschickt. Zehn der dreizehn Unterschriften stammten von Zigeunerfamilien.
    Kein Ort symbolisierte den schleichenden Tod des Dorfes drastischer als die Ruinen am unteren Ende der Deac-Straße. Das Terrain von der Größe eines halben Fußballfeldes sah aus wie nach einem Bombenangriff. Eingestürzte Dächer, nackte Fundamente und kahle Mauerstümpfe, mehr war von Kállós Handwerkszentrum nicht übriggeblieben. Einst firmierte hier eine Kooperative von Kleinunternehmern aus der Baubranche. Maurer, Zimmerleute, Schlosser und Tischler. Der Betrieb florierte und hatte sich zum zweitgrößten Arbeitgeber des Dorfes gemausert. Bis zum Oktober 2010. Als der Geschäftsinhaber bei einem Autounfall ums Leben kam, war die Firma einige Zeit führungslos. Und kurz darauf demontiert. Werkzeuge und Maschinen, die Büroeinrichtungen und der Fuhrpark, alles wurde gestohlen. Bei hellem Tageslicht. Jeder sah, dass einige Roma-Familien und ihre Kinder alles wegschleppten, was von Wert war. Sogar Dachlatten und Fensterrahmen.
    »Oben auf den Dächern standen Männer mit ihren Handys Schmiere. Wenn die Polizeiautos auftauchten, war das Gelände im Nu leergefegt. Die haben nie einen erwischt«, erzählten Attila Vas und seine Frau Mariann. Sie wohnten mit ihren acht Kindern gegenüber dem ehemaligen Handwerkszentrum und zählten zu den wenigen Roma in Kálló, die von selbständiger Arbeit lebten. Im Hof der Familie roch es wie auf einem vorweihnachtlichen Christbaummarkt. Einmal pro Woche kam ein LKW vorbei, der frisch geschlagene Fichten aus den Karpaten ablud. Der freundliche Attila Vas hatte eine Marktlücke entdeckt, die seiner Familie den Lebensunterhalt garantierte. Für Bestattungsunternehmen in Budapest flochten der 45-Jährige, seine Frau und die älteren Kinder aus dem Tannengrün Grabschmuck und Trauerkränze. Weil sie für ihre Arbeit Platz brauchten, waren sie vor vier Jahren nach Kálló gezogen. Hier waren die Häuser billig. Eine der ersten Anschaffungen waren Flutlichtlampen und Bewegungsmelder, die nachts ihr Grundstück in gleißendes Licht tauchten. »Wegen der Diebe«, sagte Attila. »Als die Baufirma zerstört wurde, stand im Hof ein Transporter, den ich gern für meinen Betrieb gekauft hätte. Damit hätten wir die Grabkränze selber in die Stadt bringen können. Aber bevor ich nach dem Preis fragen konnte, war der Lastwagen schon zerlegt.«
    Dennoch: Jenseits des Zerwürfnisses zwischen den Roma und den Ungarn schien am Horizont die Möglichkeit einer Aussöhnung auf. Über den Weg, der zurück zu einem friedlichen Nebeneinander führte, waren sich alle einig. Sogar die Witwe aus der Arpad-Straße, die aus Furcht vor Einbrechern sonntags nicht mehr die Heilige Messe besuchte. Die alte Dame hatte mir ihren Rentenbescheid gezeigt, weil ihr Garten so verwahrlost war und sie fürchtete, ich würde ihr nicht glauben, dass sie als eine ordentliche Person ihr Leben lang fleißig gearbeitet hatte. Schluchzend saß sie am Küchentisch und fragte: »Warum gibt man den Zigeunern keine Arbeit? Eine Arbeit, die sie gern und mit Freude machen? Sie müssen wissen, Herr Reporter, wenn die Zigeuner nicht stehlen, dann sind das ganz patente Leute, mit denen man ein gutes Auskommen hat.«
    »Wir brauchen ehrliche Arbeit«, sagte auch Jozsef Picacz. »So wie früher.« In sozialistischer Zeit wurden die Cigány aus der Ferenc-Deac-Straße morgens mit einem Bus nach Budapest gebracht. »Einige haben Straßen gereinigt, einige waren in der Omnibusfabrik beschäftigt. Dort habe ich kontrolliert, ob bei den Rädern alle

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