Zigeuner
mächtig genug, in die letzten Winkel der Stuben zu kriechen. Die Angst ist auch der Grund, weshalb die Ungarn aus Kálló, sofern sie noch leben, an dieser Stelle namenlos bleiben. Alle meine Gesprächspartner, viele aufgelöst oder den Tränen nah, vertrauten sich mit ihren Sorgen an. Sie quollen über mit Geschichten, doch niemand mochte seinen Namen auf Papier gedruckt wissen.
Frau A.: Die Achtzigjährige war seit Wochen krank, weigerte sich aber beharrlich, ein Krankenhaus aufzusuchen. Während ihres letzten Hospitalaufenthalts hatte man ihr Ofen, Kühlschrank, Waschmaschine, Schleuder, Bettzeug und Schmuck gestohlen.
Frau B.: »Vor zwei Jahren starb der alte Lajos Komar. Er war noch nicht unter der Erde, da hatten die Cigány sein Anwesen schon geplündert. Ich selbst war zu meinen Kindern nach Budapest gefahren. Als ich zurückkam, fand ich mein Haus leergeräumt. Sogar die Wasserleitungen waren aus den Wänden gerissen. Dann machten mir Zigeuner das Angebot, das kaputte Haus zu kaufen. Für einen Schleuderpreis.«
Frau C.: »Warum ich drei Wachhunde habe? Weil hier alle so viele Hunde haben. Weil ein Hund allein nicht reicht.«
Herr D.: Im Winter 2011 entdeckte man ihn bewusstlos und blutig geschlagen im Schnee. Er wäre fast erfroren, doch ein Freund fand ihn und brachte ihn in ein Spital. Man rief nach der Polizei, doch Herr D. verzichtete auf eine Anzeige und verweigerte jede Aussage über die Täter.
Herr E: Als er seine Kuh abends zum Melken in den Stall führen wollte, lag auf der Weide der abgetrennte Kopf.
Frau F.: Letzten Winter hörte sie, wie ihr Keller geplündert wurde. Sie rief nicht die Polizei, sondern ihre Söhne an, die ihr dringend abrieten, irgendetwas zu unternehmen. »Wenn die Diebe auf frischer Tat erwischt werden, dann laufen sie nicht weg. Sie werden wütend und gewalttätig. Vor allem, wenn sie getrunken haben.«
Familie G.: »Glauben Sie uns, wir sind hier geboren und lieben dieses schöne Fleckchen. Aber wir müssen fortziehen. Schon wegen der Kinder. Das Lehrpersonal an der Hauptschule wechselt andauernd. Hier unterrichtet niemand gern, obwohl die Lehrer sogar eine Gefahrenzulage erhalten. Kürzlich hat wieder ein wütender Vater den Turnlehrer zusammengeschlagen. Leider können wir nicht von hier weg. Wir haben unser Haus in Ordnung gehalten. Aber niemand will es kaufen. Vor vier Jahren hätten wir dafür sicherlich 50 000 Euro erhalten. Heute ist das Haus praktisch unverkäuflich. Kein Ungar zieht nach Kálló.«
Nicht nur in Kálló, in vielen gemischtethnischen Dörfern standen sich die Magyaren und Roma feindselig gegenüber. Anstatt die Spaltung zu überwinden, meinte Györi-Nagy, habe die Politik die Konflikte entfacht und die Feindschaften regelrecht gefördert. Für den Kulturökologen entsprang die Konfrontation einem Kalkül. Der Linken wie der Rechten. »Beide, die linksliberalen Ideologen und die rechtspopulistischen Hetzer, haben den Hass zwischen Zigeunern und Ungarn geschürt, um sich selber jeweils als die bessere Alternative darzustellen.« Die einen marschierten als aufrechte Retter von Ordnung, Volk und Vaterland, die anderen bliesen sich auf als humane Garanten abstrakter Menschenrechte. Missbraucht wurden die Zigeuner von beiden Lagern. Sie taugten als Spielgeld politischer Machtkämpfe. An der wirklichen Lösung ihrer Probleme, unter Einforderung ihrer Mitwirkung, war niemand interessiert.
»Der Konfrontationismus hat die Gräben vertieft«, so Professor Györi. »Es wurde mit zweierlei Maß gemessen. Wenn beispielsweise die Ungarn ihre Kinder nicht zur Schule schickten, drohte den Eltern im wiederholten Fall eine Haftstrafe. Wenn die Roma sich so verhielten, geschah gar nichts. Man glaubte, das sei liberal. Die Kultur der Konfrontation hat den Cigány eingeredet, ihr seid gedemütigt und beleidigt worden. Wenn ihr jetzt zurückschlagt, dann ist das euer gutes Recht.«
Als ich in Kálló im Frühjahr 2011 fragte, wie oft in dem laufenden Jahr bereits eingebrochen und gestohlen worden sei, zehnmal oder zwanzigmal, lachten mich die Leute aus, als hätte ich das Ausmaß des Problems nicht einmal ansatzweise begriffen. Tags zuvor waren die Sonnenkollektoren und die Pumpen der zentralen Wasserversorgung geklaut und zum weiß Gott wievielten Mal der Dorfladen aufgebrochen worden. Man erzählte sogar, die Stromableserin des Dorfes habe sich zu ihrem Schutz nun bewaffnet und ihr Privathaus mit einem Elektrozaun gesichert. Bei der Frau werde oft
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