Zigeuner
martialisch und bedrohlich. Auf der anderen Seite arme Diebe, die Feuerholz klauten und ab und an den Ungarn die Hühnerställe leer räumten. Derlei Missetaten werden hierzulande nicht einmal belächelt, erinnern sie doch irgendwie an Wilhelm Buschs Spitzbuben Max und Moritz, die der Witwe Bolte durch den Schornstein die gebratenen Hühnchen vom Herd angeln. Nur ist die Realität in Ungarn weit weniger amüsant.
Vielerorts ist das Zusammenleben von Magyaren und Roma extremen Belastungen ausgesetzt. Vor allem im Norden und Osten des Landes haben die »Mundraubdelikte« verheerende Folgen gezeitigt. In ungezählten Dörfern ist die ländliche Lebenskultur zerstört, besonders dort, wo sich traditionell die ärmsten Ungarn, die Geringverdiener und Arbeitslosen, die Witwen und Rentner aus Kleingärten selbst versorgten. Nicht immer war das Verhältnis der Ethnien so zerrüttet. Niemand in Ungarn weiß das besser als Sandor Györi-Nagy. Er hatte das Mit- und Nebeneinander der Magyaren und der Zigeuner in einer Langzeitstudie erforscht und dafür fünf Jahre in dem Dorf Kálló gelebt.
Györi-Nagy war Professor für Kulturökologie und Umweltkommunikation an der Sankt-Stephans-Universität in Gödöllö. Bis der Lehrstuhl 2005 abgeschafft wurde. Heute leitet er mit dem Ökosozialen Forum ein kleines Forschungsinstitut, das einem »rücksichtslosen Zweckwissen« widersteht, »das Mensch und Umwelt nur für Profite missbraucht«. Ähnlich wie Szilveszter Póczik versteht sich der 60-Jährige als unabhängiger Wissenschaftler, der sich weigert, sich auf eine parteipolitische Linie zwischen links und rechts festzulegen.
Ich hatte Györi-Nagy früher schon anlässlich einer Reportage über den Untergang der ungarischen Pusztakultur in seiner Heimat besucht. Er war ein bekennender Christ, ein gradliniger Mensch mit ausgeprägtem Sinn für Gerechtigkeit. Als studierter Linguist sprach er ein perfektes, bisweilen etwas altertümliches Deutsch. Schnell hatte ich mich daran gewöhnt, dass er seine Beobachtungen mit den Worten »Sehen Sie …« oder »Verstehen Sie …« einzuleiten pflegte. Danach folgten stets äußerst erhellende Erläuterungen. Sandor Györi-Nagy war einer der wissbegierigsten, klügsten und mitfühlendsten Menschen, die mir je begegnet sind. Mit ihm fuhr ich in die Provinz Nógrád nach Kálló, wo ich lernte, die Ungarn und die Roma in ihrer Umwelt mit geschärftem Blick wahrzunehmen. Zuerst staunend, dann nachdenklich, schließlich besorgt, entsetzt gar.
Von Budapest über die M3 kommend passierten wir Ortschaften wie Aszód, Kartal und Verzeg. Auf Györis Frage, ob mir in den Dörfern irgendetwas auffalle, wusste ich nur zu antworten: nichts. Es waren halt nette Orte, mit netten Häusern und netten Vorgärten und zwischendurch grüne Bäume. Ordentlich, aber nicht penibel spießig, normal eben. Auch bei der Ankunft in Kálló fiel meinem ungeschulten Auge nichts auf, was mich irritiert hätte. Wir parkten am Rande des Dorfes, wo die Erdöso-Straße endete und in einen hügeligen Feldweg überging. Bevor wir mit den Bewohnern das erste Wort wechselten, lud mich Györi zu einem Spaziergang ein. Er wollte mir zeigen, wo genau der Niedergang Kállós seinen Anfang genommen hatte. Der ansteigende Pfad, überwuchert von Gestrüpp, schien seit längerer Zeit nicht mehr begangen worden zu sein. Er führte aus dem Dorf heraus, über eine Anhöhe hinweg und verlor sich schließlich in einer idyllischen Senke, in einer saftigen Wiese mit Blumen und Gräsern. Es war still, nur die Grillen zirpten. Natürlich fiel mir auch hier nichts auf, mitten auf einer Wiese, die aussah, wie Wiesen nun einmal aussehen.
»Wir stehen auf einer ehemaligen Müllkippe«, sagte der Ökologe und suchte nach Spuren. Doch kaum etwas erinnerte daran, dass hier einmal Zigeuner lebten. Hier ein Ziegelstein, dort ein Mauerrest, ein paar zerschlagene Dachpfannen. Die Natur hatte sich das Terrain zurückerobert, die Hütten der Romungros waren verschwunden. 1975 waren sie hier weggeholt worden, heraus aus ihren armseligen Baracken neben der Abfallhalde, hinein in die Häuser der Bauern im Ortskern von Kálló. Die Höfe standen leer, weil die kommunistischen Machthaber die Besitzer enteignet, zwangsumgesiedelt und in landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gezwungen hatten. Was in Kálló wie auch in anderen ungarischen Dörfern als Maßnahme zur Integration der Roma gedacht war, entpuppte sich in der Folgezeit als erster Schritt in
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