Zigeuner
ein soziales Desaster. Die Zigeuner lebten fortan nicht mehr an der Peripherie, sondern im Zentrum einer dörflichen Kultur, in soliden Bauernhöfen mit Gemüsegärten und Obstwiesen, doch sie waren weder fähig noch willens, ihre neue Rolle anzunehmen. »Die Zigeuner sind nun mal keine Bauern«, erklärte Györi, »deshalb darf man ihnen auch nicht anlasten, dass sie die Häuser und Gärten verwahrlosen ließen.« Nicht umsonst benutzten die Romungros, um sich abzugrenzen, zur Benennung der Ungarn nicht den üblichen Begriff Magyar, sondern das Wort Paraszt. Bauer.
In sozialistischer Zeit prägte zwar kein inniges Miteinander, wohl aber eine friedliche Koexistenz das Zusammenleben von Ungarn und Zigeunern. Bei ihren integrativen Bemühungen hatten die Kommunisten jedoch weniger auf die Bereitschaft der Roma zur Assimilation als auf den restriktiven Zwang der Staatsorgane vertraut. So gab es im ungarischen Strafgesetzbuch den Paragrafen 266. Demgemäß wurden unwillige Roma und Ungarn aufgrund »allgemeingefährlicher Arbeitsscheu« dazu verdonnert, unattraktive, mitunter auch ineffiziente Hilfsarbeiten zu verrichten. Die niedrigen Kriminalitätsraten in Zeiten der Diktatur waren auf ein rigoroses Kontrollsystem und ein flächendeckendes Netz von Polizeistellen zurückzuführen. In jedem Kaff existierte eine Wachstube, oft nur mit einem Ordnungshüter besetzt, dem beispielsweise zugetragen wurde, ob die Kinder regelmäßig zur Schule geschickt wurden. Wenn nicht, übten die staatlichen Organe Druck auf die Eltern aus.
Dann kam die politische Wende. Und mit ihr der zweite Schritt in die soziale Katastrophe der Zigeuner. Die Agenten des freien Marktes setzten auf Effizienz und Profit. Und weil im Postsozialismus schlichtweg nicht genug Arbeit für alle vorhanden war, warfen die Gadsche in den Führungsetagen als Erstes die Roma auf die Straße, die von der Armut ins Elend stürzten. Gleichzeitig löste man wegen knapper Finanzen die lokalen Polizeiposten auf. In den Nullerjahren, in der Ära des Ministerpräsidenten Gyurcsány, wurden die kleinkriminellen Straftaten der Roma wenn nicht legalisiert, so doch geduldet. »Nach dem Motto leben und leben lassen«, so der Kriminologe Póczik, »sahen die ideologiebildenden Kräfte darin eine Art Beitrag zur Sozialhilfe.« Mit der Konsequenz, dass die Roma beim letzten Schritt in den Abgrund auch die Dorfkultur mit nach unten rissen.
Wir näherten uns den Häusern von Kálló nicht von der Straße her, sondern von der Rückseite der Anwesen. Allmählich verstand ich, worauf Sandor Györi-Nagy hinauswollte. Wo ich weite Wiesen und kahle Felder sah, sah er die Konsequenzen eines Raubbaus. »Einst standen hier überall Bäume. Mit ihren Motorsägen haben die Zigeuner komplette Wälder weggeholzt. Zum Heizen ihrer Häuser, aber auch, um das Feuerholz zu verkaufen.« Sandor führte mich zu den Gärten der Ungarn, die sich streifenförmig hinter den Höfen anschlossen. Der Unterschied zu Orten wie Aszód und Kartal war unübersehbar. In Kálló waren alle Gärten auf trostlose Weise verwildert. Wo andernorts Gemüse gedieh, Paprika, Tomaten, Kartoffeln und Zwiebeln, lagen leere Farbeimer umher, verrotteten kaputte Fernseher und Kühlschränke im wuchernden Gras. Weinstöcke wurden von Unkraut erstickt, verkümmerte Apfel-, Pflaumen- und Pfirsichbäume boten ein Bild des Jammers. Wenn sie nicht längst abhackt waren.
»Vor wenigen Jahren«, sagte Györi, »wurden die Gärten noch bewirtschaftet. Sehen Sie! Hier wird kein Spatenstich mehr getan. Niemand im Dorf baut noch etwas an. Niemand hält noch Nutzvieh. Es macht keinen Sinn. Alles wird gestohlen. Das ist das Ergebnis des ungarischen Konfrontationismus.«
Konfrontationismus? Ich kannte diesen Begriff nicht und vermochte mir darunter auch nichts Rechtes vorzustellen. Bis mir Professor Györi-Nagy seine Theorie über das bewusste Schüren gesellschaftlicher Konflikte mit einer Anekdote aus dem reichen Fundus seiner Geschichten illustrierte; Erzählungen, von denen ich in den nächsten Tagen von den Bewohnern Kállós derart viele hören sollte, dass mir das Papier zum Mitschreiben ausging. Berichtet wurden sie sowohl von Ungarn als auch von Roma.
Györi-Nagy erzählte von seiner ehemaligen Nachbarin, einer körperbehinderten Frau, die sich sommers ein Ferkel gekauft hatte, das sie hinter ihrem Haus in einem Koben mästete. Im Winter war das Schwein schlachtreif, doch kurz vor Weihnachten fand die Frau den Stall leer. In ihrem
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