Zigeuner
Kommentar, Waschen und Zähneputzen habe sie »vergessen«. Und wenn bei Enid Blyton die Zigeuner in Gegenden zogen, wo es kein Bauernhaus gab, wo man um Milch und Eier betteln konnte, so ziehen sie in der jetzigen Übersetzung dorthin, wo es weit und breit keinen Laden gibt, in dem man einkaufen kann. Nicht zu vergessen die Fünf Freunde im Nebel. Darin wird ein Zigeunerjunge politisch ziemlich unkorrekt gefragt: »Wäschst du dir eigentlich ab und zu das Gesicht?«, und der Junge antwortet ebenso unkorrekt: »Nein.« Heute wird aus dem englischen »No« ein deutsches »Ja.«
Jenseits der Welt der Kinderbücher entpuppen sich die sprachlichen Vermeidungsmuster als weniger närrisch. Immer häufiger kippt der Normierungszwang um in einen Korrektheitswahn, der nicht realisiert, dass er das Ansehen vieler Zigeuner massiv beschädigt. Vor allem das der deutschen Sinti. In ihrem alltäglichen Leben als deutsche Staatsbürger werden ihnen Verhaltensweisen unterstellt, die ihnen fremd sind.
So gehört es nicht zu den sozialen Gepflogenheiten der Sinti, zwischen Wohnblocks in Rostock-Lichtenhagen ihre Notdurft zu verrichten. Der Eindruck entsteht jedoch beim Lesen von Roger Willemsens Deutschlandreise . Es mag ehrenwert sein, an die Eskalation fremdenfeindlichen Hasses von 1992 zu erinnern, als die Verlierer der deutschen Einheit johlten und der Mob applaudierte, als rechtsradikale Mordbrenner Asylantenheime abfackelten. Wenn Willemsen sich aber jenes Ortes entsinnt, »wo damals die Roma & Sinti kampierten«, obschon in Rostock keine einzige Sinti-Familie lagerte, so steckt dahinter zwar keine böse Absicht, wohl aber die Gedankenlosigkeit, westeuropäische Sinti und südeuropäische Roma ständig in einem Atemzug zu nennen. Und wenn in den Innenstädten Menschen mit devoten Demutsgesten um Almosen betteln, so hocken in den Fußgängerzonen nie Sinti und Roma, auch wenn die Medien das immer wieder vermelden. Die Bettler sind meistens rumänische Tzigani.
Nun trägt niemand einen Schaden davon, wenn das Reisehandbuch Bulgarien aus der Reihe Reise Know-how den »Sinti und Roma« ein eigenes Kapitel widmet. Und das, obwohl in Bulgarien überhaupt keine Sinti leben. Es verwundert nur, dass die Autoren das Wort »Zigeuner« meiden, obwohl sie schreiben: »Diese große Minderheit nennt sich selbst Zigani, was für sie keine Beleidigung oder Diskriminierung darstellt.« Als Hunderte bulgarische Prostituierte den Straßenstrich in Dortmund überschwemmten, fuhren hiesige Reporter in die Stadt Plovdiv, um von der »Quelle des Elends« zu berichten. »Zu Tausenden kehren die hier lebenden Roma der Stadt den Rücken, um nach Dortmund zu ziehen«, heißt es in dem Nachrichtenportal DerWesten der WAZ -Mediengruppe. »Dortmund leidet unter dem Zuzug, es geht um Kriminalität und Prostitution.« Das stimmt zweifelsohne. Merkwürdig aber ist, dass die Berichterstatter in Plovdivs Roma-Viertel Stolipinovo ständig »Sinti und Roma« begegnet sein wollen, von denen einige sogar »Sinti« sprechen, eine Sprache, die außer den Journalisten niemand auf der Welt kennt. In Stolipinovo wohnen keine Sinti, wohl aber Romani sprechende Burgudži und türkischsprachige Xoraxane, die wiederum von sich behaupten, keine Roma, sondern Türken zu sein. Aus letzterer Gruppe, der Mehrheit unter den 40 000 Einwohnern in Stolipinovo, stammten jene Frauen, die bis zur Schließung des Dortmunder Straßenstrichs im Sommer 2011 ihre Körper zu Schleuderpreisen feilboten. Über das Schicksal der jungen Zigeunerinnen wird in einem späteren Kapitel zu erzählen sein. Hier sei nur erwähnt, dass die Süddeutsche Zeitung den Sinti keinen Gefallen tat, als sie verbreitete, in Dortmund würden »türkisch sprechende Roma und Sinti von ihren Familien auf den Strich geschickt«.
Abgesehen davon, dass kaum eine bulgarische Sintezza in Dortmunds Ravensberger Straße am Bordstein gestanden haben kann, ist die Prostitution für deutsche Sinti ein machtvolles Tabu. Nach ihrem tradierten Verständnis von ritueller Reinheit wäre nicht nur die Frau, die sich prostituiert, mahrime, also unrein, auch ihre Familie wäre geächtet und sozial isoliert. Entwurzelte bulgarische Xoraxane besitzen einen solchen Ehren- und Sittenkodex hingegen nicht. Oder jedenfalls nicht mehr. Falsch ist auch die Annahme, die Bulgarinnen in Dortmund würden von »ihren« Familien als Prostituierte verkauft. Kriminelle Zuhälter unter den Xoraxane beuten zwar Frauen aus, im Regelfall allerdings nicht
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