Zigeuner
Zustände – Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments heißt eine 2009 erschienene Aufsatzsammlung, in der Markus End und seine Mitherausgeber_innen klarstellen, dass es gar keine Zigeuner gibt, sondern nur »als Zigeuner titulierte Menschen«. Die sind ihrerseits auch keine echten Männer und Frauen, sondern das Produkt einer gesellschaftlichen und rassistischen »Konstruktionsleistung«. Die Autor_innen folgen dabei den begrifflichen Standards des Zentralrats und der Marburger Gesellschaft. »Zigeuner«, so heißt es, wird »als diskriminierendes Bild durchgängig in Anführungszeichen und nicht geschlechtsneutral geschrieben, weil es ein geschlechtsneutrales Denken im Ressentiment voraussetzen würde, das nicht vorhanden ist.« Was auch immer das bedeuten mag, eine Gruppe, die sich Emanzipatorische Antifa Münster nennt, geht noch einen Schritt weiter und billigt dem Begriff »Zigeuner« nicht einmal mehr seine acht Buchstaben zu. Mit der Erklärung: »Da das ›Z-Wort‹ allerdings ein sehr gewalttätiges Wort ist, wird es dementsprechend … nicht mehr ausgeschrieben, sondern mit ›Z.‹ abgekürzt.« Dass sie damit jenes Kürzel benutzen, das die SS-Schergen von Auschwitz-Birkenau den Zigeunern zusammen mit der Häftlingsnummer auf den Unterarm tätowierten, ist den Antifaschist_innen entgangen.
Mit »Z.« ist die Saat bizarrer sprachlicher Absurditäten erblüht, für die die Ideologen der Korrektheit über Jahrzehnte einen gedeihlichen Boden geschaffen haben. Die Meinungsbildner in den Medien haben die Ächtung des Begriffs »Zigeuner« durch den Zentralrat weitgehend zu ihrer eigenen Sache gemacht. Mehr noch. Journalisten und Politiker, Lehrer und Pädagogen, ja selbst Küchenmeister haben die Sichtweise der Funktionäre zur Norm erhoben. Gewiss entspringt manch verbaler Missgriff einer hehren Absicht, und manche Absonderlichkeit ruft schmunzelndes Kopfschütteln hervor. So wenn in der Mensa des Studentenwerks in Gießen das »Zigeunerschnitzel« vom Speiseplan verschwindet und durch »Schweineschnitzel mit Sauce Zingara« ersetzt wird. Weiß der Himmel, weshalb der Kantinenchef einer italienischen Zingara den Vorzug vor der deutschen Zigeunerin gibt.
Damit schon die Jüngsten in Deutschland in einer antiziganismusfreien Verbalzone aufwachsen, erfahren die jungen Internet-Nutzer auf der Kinderinsel, dem Wissenslexikon des Bayerischen Rundfunks, unter dem Stichwort Zigeuner: »Das Wichtigste zuerst: Zigeuner ist ein Schimpfwort! Sinti oder Roma heißt dieses Volk wirklich.« Auch für sensible Eltern, die fürchten mussten, ihre Kinder könnten sich bei der Lektüre von Pippi Langstrumpf mit dem Virus des Rassismus infizieren, besteht kein Anlass mehr zur Besorgnis. Auf seiner Webseite beruhigt der Verlag Friedrich Oetinger unter »Häufige Fragen« verunsicherte Leser mit der Klarstellung, in den aktuellen Neuauflagen der Bücher Astrid Lindgrens seien die Wörter »Neger« und »Zigeuner« nicht mehr zu finden. Rabiater machten sich die Hüter der Wörter an dem Vokabular und an den Geschichten der englischen Kinderbuchautorin Enid Blyton zu schaffen. Nach ihrem Tod 1968 wurden ihre millionenfach verlegten Jugendschmöker inhaltlich gesäubert und weichgespült. Seitdem in Blytons Fünf-Freunde-Abenteuern die Zigeuner zu Zirkusleuten mutiert sind, tragen die Bücher wieder den Stempel pädagogischer Unbedenklichkeit. Der 1964 unter dem Titel Fünf Freunde und ein Zigeunermädchen erschienene Band heißt seit den neunziger Jahren Fünf Freunde und die wilde Jo.
Die Österreicherin Lucia Marjanovic hat in ihrer literaturwissenschaftlichen Diplomarbeit an der Universität in Wien die verschiedenen Neubearbeitungen von Enid Blytons Fünf-Freunde- Büchern miteinander verglichen und dabei bemerkenswerte textliche Eingriffe zutage gefördert. So haben sich Elend, Schmutz und Gestank in den neueren Übersetzungen auf sonderbare Weise verflüchtigt. Auch das Zigeunermädchen, die »Lumpen-Jo« Enid Blytons, macht erstaunliche optische und charakterliche Veränderungen durch. Früher konnte das verwahrloste Kind, das bei ihrem prügelnden, kleinkriminellen Vater aufwuchs, weder lesen noch schreiben. Heute tut sich Jo mit dem Lesen und Schreiben lediglich »ein wenig schwer«. Einst roch sie mangels hygienischer Maßnahmen »entsetzlich«, nunmehr ist »ein Bad überfällig«. Wo die Freunde einst mutmaßten, Jo habe »niemals eine Haarbürste oder ein Stück Seife besessen«, lautet der aktualisierte
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