Zigeuner
päpstlicher als der Papst.«
Letztere Bemerkung bestätigte sich tragischerweise an jenem Tag, als Natascha Winter ihrem Krebsleiden erlag. An Fronleichnam 2012 traten in Köln die bekanntesten europäischen Roma-Musiker beim »Rheinischen Zigeunerfestival« auf, wo man bestürzt über die Nachricht vom Tod der »Kölsche Zigeunerin« auch der »Weggefährtin Natascha« gedachte. Der interkulturelle Kölner Rom e.V., dessen Vorstandsgeschäfte von Gadsche geführt werden, hatte sich indes über den Namen »Zigeunerfestival« mokiert und massiv protestiert. Organisiert wurde das Musikfest von Sinti, die sich selbst ausdrücklich als Zigeuner bezeichnen. Der aus dem heutigen Kroatien stammende und seit einem Vierteljahrhundert in Deutschland lebende Gitarrist Rudi Rumstajn und der renommierte Violinist Markus Reinhardt erklärten das Begriffspaar »Sinti und Roma« zu »einer Kopfgeburt von Institutionen«, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, »Zigeuner vor Diskriminierung zu schützen«. In einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger antwortete der Jazzmusiker Reinhardt auf die Frage: »Darf man wieder Zigeuner sagen?«
»Ihr dürft uns Zigeuner nennen. Die Vorsicht im Umgang mit dem Wort ist Blödsinn. Die neuen Begriffe haben Politiker erfunden. Wir Zigeuner haben uns krummgelacht, als man entschieden hat, dass man nicht mehr Zigeuner sagen darf.«
Natascha Winter scheint Recht zu behalten. Tatsächlich sind die Nichtzigeuner unter den Meinungswächtern weitaus eifriger dabei, politische Unkorrektheiten in einem Koordinatensystem aus rassistischen und faschistoiden Kreuzungspunkten zu verorten, als die Zigeuner selbst. Ein Rom käme schwerlich auf den Gedanken, einen solchen Aufruf zu verfassen:
»Bitte machen Sie uns Vorschläge und versorgen Sie uns mit Nachrichten. Bitte machen Sie rassistische und diskriminierende Aktionen gegen Sinti und Roma in Ihrem Umkreis bekannt und achten Sie dabei auf die Reaktion Ihres Visavis!«
Um einer Fehlinterpretation entgegenzutreten: Die informellen Mitarbeiter sollen ihre Berichte nicht in die Normannenstraße nach Berlin schicken. Der Appell stammt von der Gesellschaft für Antiziganismusforschung in Marburg, deren Vorsitzender der emeritierte Professor für Literaturwissenschaft Wilhelm Solms ist. Die Mitglieder der Gesellschaft verstehen sich nicht als Soziologen oder Völkerkundler, die das Leben der Roma erforschen. Sie grenzen sich sogar ausdrücklich von den Tsiganologen ab, die den Alltag und die Kultur der Sinti und Roma erkunden und begreifen wollen. »Tsiganologie« oder »Zigeunerforschung« knüpft für die Marburger Akademiker »an rassistische Forschung« an und steht daher in der Tradition des Nationalsozialismus. Die Gesellschaft für Antiziganismusforschung hingegen, so eine Selbstdefinition, »macht nicht die Sinti und Roma zum Forschungsobjekt, sondern setzt sich mit den Ressentiments der Mehrheit auseinander, die zur Verfolgung und Vernichtung dieser Minderheit geführt haben.«
Nun merkt der Ethnologe Rüdiger Benninghaus an, dass man das Leben der Zigeuner schon ein Stück weit kennen sollte, bevor man sich zutraut, etwa »ein Klischee von der Realität zu unterscheiden«. Dessen ungeachtet sitzen die Kritiker der antiziganen Mehrheitskultur bei ungezählten Tagungen, Kongressen und Symposien als Sinti-und-Roma-Experten auf den Podien. Sie konzipieren Ausstellungen, in denen sie die Mär vom lustigen Zigeunerleben widerlegen. Sie schulen Lehrer bei antirassistischen Bildungsseminaren und klären Schulkinder über die Vorurteile der gesellschaftlichen Mehrheit auf. Dagegen ist nichts einzuwenden. Nur ist mir aufgefallen, dass zwar am laufenden Band neue Studien erscheinen, ich in zweiundzwanzig Jahren in weit mehr als hundert europäischen Roma-Kommunitäten jedoch noch nie einem Antiziganismusforscher begegnet bin. Oder wenigstens von seiner Anwesenheit gehört hätte. Die notorische Abwesenheit freilich erspart verstörende Erfahrungen. Es schmerzt zu sehen, wenn Säuglinge auf Müllhalden von halbwüchsigen Müttern in ausgebrannten Ölfässern abgelegt werden. Es schockiert zu erleben, wenn betrunkene Väter zuschauen, wie sich ihre Kleinkinder Pornovideos reinziehen. Und es macht zornig zu recherchieren, wie skrupellose Zinswucherer die Kinder ihrer Gläubiger zum Betteln nach Westeuropa schicken. Sicher ist es irritationsfreier, immerfort neue und subtilere Varianten von Rassismen der Dominanzgesellschaft zu entlarven.
Antiziganistische
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