Zigeuner
Ruhrgebiet – Verraten und verkauft: die Furcht der Radka Inkova – Warum Bulgarinnen, die nicht lesen können, für ein Mobiltelefon einen horrenden Preis zahlen – Frauen in Not
Obwohl sogenannte Kongress-Roma – Natascha Winter benutzte den despektierlichen Terminus »Berufszigeuner« – ständig die Diskriminierung ihres Volkes und das Elend in jenen Siedlungen beklagen, die sie selbst nur dann betreten, wenn sie von Reportern und Kameras begleitet werden, meinen europäische Intellektuelle wie der französische Philosoph André Glucksmann oder der Schriftsteller Günter Grass, den Roma mangele es an Fürsprechern. Für Grass, der sogar eine Stiftung zugunsten der Sinti und Roma ins Leben rief, sind sie ein Volk »ohne Stimme«. Folglich ist für die Roma zu sprechen.
Als 2010 die rumänischen Tzigani aus Frankreich abgeschoben wurden, trat André Glucksmann in der Welt für das Recht der Zigeuner ein, uneingeschränkt umherziehen zu können. »Der freie Austausch von Gütern und Ideen steht außer Zweifel, jetzt geht es darum, die Freiheit der Schwächsten unter uns zu sichern, jene der grenzüberschreitenden Wohnwagen, jene der Reisenden ohne festen Wohnsitz, die Musiker und Poeten früherer Zeiten so sehr faszinierten.«
Günter Grass erklärte nicht frei von Pathos, »als geborene Europäer« seien die Roma »aus jahrhundertealter Erfahrung in der Lage, uns zu lehren, Grenzen zu überschreiten, mehr noch, die Grenzen in uns und um uns aufzuheben und nicht nur ein in Sonntagsreden behauptetes, sondern erwiesen grenzenloses Europa zu schaffen.« Ich will diese Haltung nicht verunglimpfen. Sie hat sich jedoch an den Realitäten des Alltags zu messen.
De facto ignoriert Grass die Schwächsten, jene, die den Preis der grenzenlosen Reisefreiheit zahlen. Sie leben in moldawischen Verwahranstalten oder in rumänischen Kinderheimen, wie dem »Stern der Hoffnung« in der Stadt Alba Iulia. »Die Roma sind die Sühneopfer der verlorenen Kinder der Globalisierung«, meinte wortmächtig auch André Glucksmann. Nur dachte er dabei vermutlich nicht an Kinder wie Marcelo, Alex und Alexandra, elf, zehn und acht Jahre alt. Die drei blieben zurück, als ihre Mutter von heute auf morgen Richtung Westeuropa verschwand. Abgeschoben wurden auch die Geschwister Simona, Andrea und der dreijährige Cosmin. Vernachlässigt, verwahrlost und vom Hunger ausgemergelt ließen ihre Eltern sie im Stich, als sie zum Betteln nach Spanien abhauten. Sie meldeten sich nicht wieder. »Das Einzige, was sie ihren Kindern für das Leben hinterließen«, so die deutsche Heimleiterin Sybille Hüttemann, »ist die Erfahrung, als Mensch keinen Wert zu besitzen.« Seit der Anteil der Roma-Kinder unter ihren Schützlingen beständig wächst, reagiert die gelernte Kinderkrankenschwester etwas empfindlich, wenn Moralisten überall Erklärungen für das Verhalten der Roma suchen, nur nicht bei den Roma selbst.
Längst hat sich eine selbstgerechte Empörungsclique etabliert, die nicht gewillt ist, die Schattenseiten ihrer Freiheitsideologie zur Kenntnis zu nehmen. Sie fordert die Freiheiten von EU -Bürgern zu Recht auch für Roma ein, verzichtet allerdings darauf, verbindliche Pflichten einzuklagen. Der subtile Rassismus der Sinti- und Roma-Freunde besteht darin, dass sie der Gesellschaft alles, den Zigeunern indes nichts abverlangen. So verhält man sich gewöhnlich gegenüber Menschen, denen man nichts zutraut.
Nun sind die Empörten nicht wahrnehmungsblind. Sie wissen sehr wohl, dass sich hausgemachte Probleme der Roma nicht leugnen lassen. Einerseits. Andererseits darf keinesfalls an ihrem Opferstatus gerüttelt werden. Um die Verantwortung für die Zigeuner weiterhin an die Gadsche zu delegieren, die Roma zugleich jedoch von jeglicher Eigenverantwortlichkeit zu entbinden, bedarf es eines Griffs in die Trickkiste der Argumentationskunst. Dabei wird ein Problem mit dem Verweis auf ein ungleich gewichtigeres Problem quasi kleingeschrumpft und vom Tisch gefegt. Luise Rinser war zwar nicht die erste, die sich dieser Methode bediente, aber in ihrer 1987 erschienenen »Anklage« Wer wirft den Stein? Zigeuner sein in Deutschland brachte sie es mit dem Kunstgriff des relativierenden Vergleichs zu wahrer Meisterschaft.
Den Vorwurf mangelnder Hygiene auf verschmutzten Caravan-Stellplätzen beispielsweise konterte Frau Rinser mit dem Verweis auf das Wald- und Fischsterben und die Abgase und Abwässer unserer Fabriken, wobei sie fragte: »Wer verschmutzt
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