Zigeuner
die Umwelt mehr? Zigeuner oder Industriewerke?« Die Mutmaßung, Zigeuner würden schwindeln und betrügen, erledigte sie ebenfalls mit einer Gegenfrage: »Verführt die öffentliche Reklame nicht genauso die Dummen zur Dummheit?« Und gegen den Verdacht, Zigeuner seien unlautere Händler, die einem Ramschteppiche als echte Orientware andrehen, führte Rinser den kapitalistischen Konkurrenzkampf und die tödlichen Skandale einer betrügerischen Pharmaindustrie ins Feld. »Kein Zigeuner hat Seveso beliefert, keiner Contergan oder Mexaform hergestellt und weiterverkauft.«
In ihrem Buch Die Zigeuner erzählen der Soziologieprofessor Reimer Gronemeyer und die Ethnologin Georgia Rakelmann, dass die Roma im mittelalterlichen Europa mit Schutzbriefen von Kaisern und Fürsten unterwegs waren, wobei die Zertifikate aus adliger Hand nicht selten gefälscht waren. Ein selbstfabrizierter Schutzbrief wird indes zur »Bagatelle«, wenn man einen treffenden Vergleich sucht. Gronemeyer findet ihn in dem »ungeheuren Reliquien- und Ablassschwindel«, den der Klerus im Mittelalter betrieb. Auch Karl-Markus Gauß demonstriert anschaulich, wie ein großes Übel neben einem sehr großen Übel verblasst. In Die Hundeesser von Svinia berichtet Gauß, wie in dem slowakischen Roma-Ghetto Lunik IX am Stadtrand von Kosice zwanzig Taxen aus Belgien vorfuhren. Der Stadtrat einer flämischen Provinzstadt hatte die Tour finanziert, mit der sechzig Bettler in ihre Heimat zurücktransportiert wurden. Sofort nach der Ankunft der Leute trieben örtliche Kreditwucherer ihre Prämien ein. Die Bettler, so Gauß, hatten sich mit der Zahlung jedoch nicht aus ihrer Schuldknechtschaft befreit, sondern nur die Zinsen getilgt. »Im großen mörderischen Stil machen Weltbank und Internationaler Währungsfond das mit den Hungerländern der Dritten Welt nicht anders«, relativiert Gauß das grassierende Phänomen der Wucherei mit einem Hauch Ironie und fragt, »warum sich also empören, dass im Kleinen Roma so mit Roma verfahren?«
Eine vorläufige Antwort sei hier gegeben, mehr dazu in Kapitel 12: Weil eine Frau wie Elvira Tudor mit ihren neun Kindern aus dem rumänischen Cetatea de Baltă herzlich wenig mit der Weltbank zu tun hat, wohl aber mit einem lokalen Kredithai, einem Patron, der in seiner Gier dafür sorgt, dass die verarmte Frau kein Bein an den Boden bekommt, während seine Villa regelmäßig um ein Stockwerk wächst. Und es gibt in Osteuropa viele Patrone, neureiche Sippenchefs, die sich in einem bizarren Wettbewerb um den Protz ihrer Paläste und Kitschburgen permanent übertrumpfen. Doch obszön zur Schau gestellter Reichtum und pseudofeudaler Pomp passen nicht in das romantisierende Zigeunerbild derer, die den Roma ihre Stimme leihen. Die Chefs der Bettelclans, die Bosse von Schlepperbanden und die Wucherer, die mit ihrem brutalen System der Zinsknechtschaft die Ärmsten ihres Volkes bis auf das letzte Hemd ausbeuten, existieren für die Menschenrechtler nicht. Sie sind keine Opfer. Für sie lässt sich nicht die Stimme erheben.
Bereits Mitte der neunziger Jahre hatte Günter Grass für die Roma einen »Europapass«, gefordert, »der ihnen von Rumänien bis Portugal das Bleiberecht garantiert«. Ein solcher Ausweis ist heute überflüssig. Mit den offenen Grenzen und dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur Europäischen Union 2007 zogen Zehntausende Zigeuner in die Bundesrepublik, nach Berlin oder in das Ruhrgebiet. Allein in Dortmunds Nordstadt fanden in den Folgejahren 3000 südosteuropäische Roma Quartier. In Duisburg zählte die Stadt im Januar 2013 über 6000 Personen. Offiziell. Faktisch sind und werden es mehr. Wie alle EU -Bürger besitzen die Zuwanderer Reisefreiheit und das Recht auf einen dreimonatigen Aufenthalt in Deutschland. Sie erhalten jedoch keine Erlaubnis für eine Beschäftigung als Arbeitnehmer. Ab 2014 entfällt diese Beschränkung. Bis dahin haben Rumänen und Bulgaren die Möglichkeit, als Selbstständige für ihren Lebensunterhalt zu sorgen und ein Gewerbe zu betreiben. Etwa als Schrotthändler, als Transporteur oder in der Bau- und Reinigungsbranche. De facto werden diese Tätigkeiten nur selten ausgeübt. Die Anmeldung eines Gewerbes bei den Ordnungsämtern dient dazu, die Aufenthaltseinschränkungen zu umgehen und für die Familien das Anrecht auf die Zahlung von Kindergeld zu erwirken. In Berlin hatte die ehemalige Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner von der Linkspartei Roma-Familien aus Rumänien empfohlen,
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