Zigeuner
Roma gemeint sind. Nur das erwähnt der fünfseitige Brief an keiner Stelle. So als habe dreißig Jahre nach den Ereignissen von Darmstadt die Politik der Mut verlassen. Die Furcht, als Rassist verleumdet zu werden, ist mächtig; so mächtig, das sie jedes offene, vielleicht auch einmal ungeschützte Wort im Keim erstickt. Nicht ohne Grund.
Wer heute das Handbuch Von Antiziganismus bis Zigeunermärchen von Daniel Strauß und Michail Krausnick aufschlägt, entdeckt darin auch einen Absatz über den » OB Metzger«.
Unter dem Buchstaben P.
P wie »Pogrome«.
Oberbürgermeister Metzger ist die einzige Person, die unter diesem Stichwort Erwähnung findet, in einem assoziativen Begriffsumfeld aus Attentaten, Brandanschlägen, Rassenhass und Völkermord. Demgegenüber muten die Straftaten aus dem Kreis der Roma in Darmstadt wie Kinkerlitzchen an. Ihre »angebliche Kriminalität« beschränkte sich laut Krausnick und Strauß »auf wenige Führerschein- und Verkehrsdelikte«. Das habe auch das Verwaltungsgericht Darmstadt festgestellt. Die Dokumentation der Stadt Darmstadt sieht das anders. Da ist von räuberischer Erpressung die Rede, von Angriffen auf Polizisten, von Hehlerei und von Dutzenden Einbrüchen und Diebstählen, bei denen oft strafunmündige Kinder erwischt wurden, die regelmäßig falsche Namen angaben. In trockenem Behördendeutsch heißt es:
»Unter den Darmstädter Roma befanden sich 37 amtlich registrierte Kinder unter 14 Jahren. Zwanzig der in Darmstadt ansässigen Roma-Kinder begingen im Jahr 1983 Einbrüche, sieben Kinder verübten Ladendiebstähle. Von Roma-Kindern mit anderen Vornamen als den registrierten, jedoch mit Anschrift Darmstadt, wurden weitere 51 Einbrüche und zwölf Diebstähle begangen, so dass sich eine Gesamtzahl von neunzig Straftaten von Roma-Kindern im strafunmündigen Alter im Stadtbezirk für 1983 ergibt. Im Jahre 1981 waren 107 und 1982 102 Straftaten registriert worden.«
Was das Schlagwort »Pogrome« angeht, so sind Gewaltexzesse von Darmstädter Bürgern gegen die Roma einst nicht vermeldet worden. Ein Toter jedoch war zu beklagen. Es war ein Mensch, der im System der moralischen Arroganz keinen Gebrauchswert hatte und durch das Raster der Wahrnehmung fiel. Wo die Liebfrauenstraße auf die Arheilger Straße trifft, betrieb der Gastwirt Heinz Donnerhak die Martinsstuben. Bis zum 12. Februar 1982, als ihm und den Anwohnern morgens um drei eine Gruppe Männer die Nachtruhe raubte, lautstarke Roma, teils aus Frankfurt, die ihre Leute in Darmstadt besucht hatten. »Um sich Gehör zu verschaffen, ging der Gastwirt auf die Straße«, berichtete das Darmstädter Echo. »Dabei kam es zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf einige der Männer auf Donnerhak einschlugen und ihn mit Füßen traten, bis er bewusstlos auf dem Bürgersteig liegenblieb.« Wenige Tage später starb der 59-Jährige im Krankenhaus infolge seiner schweren Schädelverletzungen. Aber das erfuhren die Leser der Zeit -Anzeige nicht.
Die Welle der Aversion, die bei dem Aufstand des Anstands über den Darmstädter Günther Metzger hinwegfegte, ist längst abgeebbt und neuen Wogen der Empörung gewichen, wobei der inflationäre Rekurs auf den Völkermord unter den Nationalsozialisten heute zum Standardrepertoire grobschlächtiger Totschlagsargumente zählt. Ein typisches Beispiel für den Wahrnehmungssumpf aus Realitätsverlust und semantischer Maßlosigkeit ist der Vorwurf des »Aufrufs zu einem Pogrom«, der 2011 von Iris Bernert-Leushacke, Sprecherin des Kreisverbandes der Dortmunder Linkspartei, gegen die Ruhr Nachrichten erhoben wurde. Mit dem Beitrag »Die Schattenseiten der Ost-Erweiterung in Europa« hatte die bürgerliche Tageszeitung über den dramatischen Anstieg der Kriminalität in Dortmund berichtet, was wiederum Frau Bernert-Leushacke veranlasste, sich über die Redakteure der Ruhr Nachrichten zu erregen. »Respekt«, ätzte sie. »Als ich Ihren Artikel gelesen hatte, habe ich mich gefragt, ob Sie sich eine Ausgabe des faschistischen Hetzblattes Der Stürmer als Vorlage genommen haben.« Und weil das noch nicht genug war, zog die Lokalpolitikerin auch gleich noch einen Vergleich mit dem NS -Hetzfilm Der ewige Jude.
KAPITEL 10
Europa ohne Grenzen
Wenn Gadsche den Roma eine Stimme geben –Das Ende eines Straßenstrichs: Dortmunds Nordstadt – »Rotationseuropäer« und »mobile ethnische Minderheiten« – Diakonie und Security: Als die Helfer überfordert waren – Von Stolipinovo ins
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