Zigeuner
ihren dauerhaften Verbleib in Berlin als Gewerbetreibende zu legalisieren. Mitte 2012 zitierte Spiegel- TV aus einem »Roma-Statusbericht« des Bezirks Neukölln, wonach bereits über 2400 rumänische und bulgarische Roma als gewerbliche Unternehmer registriert waren, zumeist im Abrissgeschäft. Keiner besaß überhaupt Werkzeug, um selbständig Geld zu verdienen. In einem Gewerbe allerdings wird tatsächlich Kasse gemacht: in der Prostitution.
Die stete Zuwanderung in Dortmund oder Duisburg hatte Konsequenzen, die sich spätestens seit 2010 nicht mehr ignorieren ließen. Durfte man der Presse glauben, dann stand mit der Dortmunder Nordstadt ein ganzes Wohnviertel auf der Kippe, ernsthaft bedroht in die Verwahrlosung abzurutschen. Nicht nur die siebenhundert registrierten rumänischen und bulgarischen Prostituierten, darunter auffallend viele aus dem Roma-Viertel Stolipinovo in Plovdiv, wurden zu einer Belastung des sozialen Klimas, auch die Männer, die auf den Plätzen und Bürgersteigen rund um den Nordplatz den öffentlichen Raum in Beschlag nahmen. Das linkspolitische Lager sah in ihnen die rechtlosen Opfer von Globalisierung und Ausgrenzung, heimatlos, auf der Suche nach Arbeit, Lohn und Brot. Die bürgerliche Fraktion erkannte in ihnen zwielichtige Zuhälter, die ihre Frauen in die Ravensberger Straße zum Anschaffen schickten. Zum billigen Vergnügen von Zeitgenossen wie »Himbeer-Toni«, »Palerider« oder »Oralfreund«, die sich in Internetportalen darüber ausließen, welche Zigeunerinnen in Dortmund für 20 Euro und weniger zu haben waren. »Ohne Gummi« natürlich.
Wahrscheinlich hat es Günter Grass nie in Dortmunds Nordstadt verschlagen. Doch ein Blick auf die Webseite www.hinter-hornbach.de hätte genügt, um sich die dunkle Seite seiner grenzenlosen Naivität anzuschauen. »Der geilste Strich ever! Viele junge Hasen, die alles mit sich machen lassen«, schwärmte »Biker«. Und ein User namens »Greif«, der mit schwangeren Prostituierten »einfach mal was Neues erleben möchte«, erhielt von dem »erfahrenen Benutzer Knutsen« den Tipp: »Vielleicht probierst du mal dein Glück auf der Ravensberger bei den vielen Ziggos«. Die richtig schäbigen Kommentare seien an dieser Stelle erspart.
Von früheren Stippvisiten her war mir die Nordstadt in guter Erinnerung, als ein lebenswertes Stadtviertel, das besser war als sein Ruf. Sicher ließen sich Armut, Arbeitslosigkeit und Verwahrlosung nicht übersehen. Und im Gegensatz zu Dortmunds wohlhabenderem Süden sorgten die Trinker, Junkies und Dealer nicht unbedingt für gutbürgerliche Behaglichkeit. Dennoch war zwischen Hafen, Hauptbahnhof und Borsigplatz noch der alte Geist des Ruhrpotts lebendig, jene ehrliche Mixtur aus urbaner Weltoffenheit und heimeliger Provinzialität. In der Nordstadt verdichtete sich das Ruhrgebiet auf wenigen Quadratkilometern zur Essenz seiner selbst. Das Leben war nicht geprägt von konfliktfreier Blauäugigkeit, wohl aber von einem nachbarschaftlichen Nebeneinander, wo sich eine studentische und alternative Szene mit dem alteingesessenen Malochermilieu vertrug. Zwischen gediegenen Bürgerhäusern aus der Gründerzeit und den abgegammelten Mietblöcken anonymer Spekulanten war und ist die Welt zu Hause. »Multi-Kulti« ist hier kein Zankwort, bei dem dumpfe Fremdenfeinde den Untergang des Abendlandes wittern und Freunde des Exotischen ins Schwärmen geraten. Wo Menschen mit mehr als fünfzig Nationalitäten auf engstem Raum zusammenleben, ist die ethnische Vielfalt Normalität. Dass zwei von drei der 55 000 Dortmunder Nordstadt-Bewohner einen Migrationshintergrund haben, war eher eine Herausforderung denn ein Problem. Bis aus Plovdiv ein paar Busse zu viel kamen.
»Rund um den Straßenstrich der Nordstadt haben sich in den vergangenen zwölf Monaten bulgarische Kriminelle niedergelassen, die in ganz Nordrhein-Westfalen auf Diebestouren und Raubzüge gehen«, schrieben die Ruhr Nachrichten im Frühjahr 2011. Der Dortmunder Polizeipräsident Hans Schulze stellte einen lawinenartigen Anstieg der Straftaten fest, und das Landeskriminalamt sprach von Strukturen organisierter Kriminalität. 2010 bereits war die Zahl der Raubüberfälle gegenüber dem Vorjahr um vierzig Prozent gestiegen. Die Diebstahlsdelikte hatten sich verdreifacht, die der Taschendiebstähle sogar versechsfacht, und Schulze forderte, den Zuzug aus Osteuropa zu stoppen: »Wenn uns das nicht gelingt, werden wir eine Entwicklung in der Nordstadt haben, die alles
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