Zigeuner
Stillstand und die Totenstarre sehnsuchtsloser Sattheit auf. »Wo bist Du, wer kann es mir sagen?« birgt jenen Moment des Innehaltens, wo sich die Frage stellt, was wirklich im Leben wichtig ist. Wenn für Alexandra hier die Imagination eines Gitarre spielenden Jungen inmitten tanzender und lachender Zigeuner auftaucht, spricht daraus nicht eine Missachtung, sondern die Wertschätzung der Zigeuner.
Nun ist freilich auch anzumerken, dass deutsche Schlagertexter wie auch amerikanische Rockheroen selten eine glückliche Hand haben, wenn sie auf zigane Motive zurückgreifen. Als Ausnahme muss selbstverständlich die »Band of Gypsies« von Jimi Hendrix angeführt werden. Um einzusehen, dass all die ungezwungen, bindungslos umhervagabundierenden und freie Liebe machenden Zigans, dass all die feurigen, erotisierenden und Männer verschlingenden Rasseweiber weniger der Wirklichkeit als ziemlich albernen Klischees entspringen, dazu bedarf es wahrlich keines Soziologiestudiums. Ein gelassener Charakter würde die Zigeunerschlager einfach nur dämlich nennen, stattdessen Lieder von Kalyi Yag oder Camarón de la Isla hören und sich wichtigeren Fragen zuwenden. Mit solch schlichten Lösungen kann und darf sich die akademische Forschung jedoch nicht zufriedengeben. Vor allem nicht die deutsche anti-antiziganistische Forschung.
»Was muss ich mir als Hörer_in zumuten lassen?«, entrüstet sich Christina Kalkuhl in der Zeitschrift ZAG über das Lied »Wo sind die Zigeuner geblieben?«, gesungen von Angela Wiedl. Ich hatte von Frau Wiedl noch nie gehört und wusste nicht, dass sie eine recht bekannte Volksmusikantin ist, die sogar bei einem Grand Prix des Musikantenstadl mit ihrem Zigeunerschlager eine ordentliche Platzierung erreicht hatte. Angela Wiedl wirkt, wenn man Fotografien von ihr trauen darf, keineswegs unsympathisch. Sie singt Lieder wie »Aber liab musst schon sein« und »Für di stell i a Kerzerl auf«. Und eben auch »Wo sind die Zigeuner geblieben?«. »Ihre Pferde, ihre Wagen, ihre Lieder singt der Wind«, heißt es. »Mit der Glut von ihrem Feuer starb der Rest von Abenteuer, um den wir heute ärmer sind.« Angela Wiedl erzählt noch von dem altem Primasch, der nicht mehr über Land zieht, sondern in einer grauen städtischen Mietskaserne wohnt, wo er manchmal die Geige aus dem Schrank nimmt und für sein Enkelkind Weisen der Freiheit spielt, wobei sein Blick traurig in die Ferne schweift.
Ist das Kitsch? Aber ja. Ist das Gefühlsduselei? Wohl auch das. Man muss diese Lieder, mit schmissig-feurigem »Spiel Zigan, spiel«-Rhythmus unterlegt, nicht mögen. Aber muss man gleich wie Frau Kalkuhl von der Gesellschaft für Antiziganismusforschung den Eindruck erwecken, »Wo sind die Zigeuner geblieben?« treibe jeden aufgeklärten Zeitgenossen an die Grenze dessen, was ein Mensch überhaupt zu ertragen vermag? Wenn die Kritikerin der Musikantin die »schamlose Verwendung von zahlreichen Klischees« und die Verkitschung einer fahrenden Lebensweise attestiert, nun gut. Auch mag der Vorwurf stimmen, verschwiegen würden Armut, Kälte und Schikanen durch die Polizei. Unappetitlich wird es jedoch, wenn Christina Kalkuhl der Sängerin unterstellt, ihr Lied verbreite »Rassismus in reinster Form«. Solch eine verbale Zügellosigkeit wird kaum relativiert, wenn die empörte Magistra Artium einschränkt, der Schlager sei »kein aufklärerisches Medium« und habe »ganz klar nicht die Aufgabe, über den Völkermord an den Sinti und Roma zu informieren«, aber ein »Minimum an Sensibilität« könne sie von der Schlagermusik schon erwarten.
Nun ist der Sensus für Sensibilitäten eine relative Angelegenheit, wobei sich zur educación sentimental empfindlicher Charaktere der Besuch eines mehrtägigen Zigeunermusikfestes empfiehlt. Kein etabliertes Festival mit virtuosen Musikern in der Berliner Philharmonie oder Konzerte so grandioser Gitarristen wie Ferenc Snetberger, Harri Stojka, Bireli Lagrene oder Josho Stephan, eher ein Manele-Gipsy-Pop-Event in Rumänien oder besser noch eine Turbo-Party im mazedonischen Shutka, bei der die Musiker Playback-Chipkarten in ihre Keyboards stecken, bevor sie mit ohrenbetäubender Lautstärke den halben Balkan beschallen. Was da an frauenfeindlichem und sexistischem, der patriarchalisch heteronormativen Geschlechterzuordnung verpflichtetem Liedgut zu hören ist, wäre für die Stereotypenerkennung enorm lohnend und für soziologische Forscher eine echte Fundgrube. Gegen das schmalzige und
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