Zigeuner
intuitive Weitsicht dieses Satzes zu begreifen. 1968 war ein Jahr des Niedergangs wie auch des Aufbruchs und der Revolte. Die USA verloren mit dem grässlichen Massaker von My Lai jegliche Legitimation für ihren Vietnam-Krieg, zugleich wurde mit dem erbitterten Kriegsgegner und Friedensmahner Martin Luther King die leidenschaftlichste Ikone des Antirassismus ermordet. In der Tschechoslowakei zermalmten sowjetische Panzer die Freiheitsideale des Prager Frühlings, während in Berlin Rudi Dutschke mit Kopfschüssen niedergestreckt wurde. In der Nachkriegsbundesrepublik hatte das Wirtschaftswunder den Deutschen zwar Wohlstand, VW -Käfer und Adria-Urlaub beschert, doch um den hohen Preis einer belastenden Verleugnungs- und Verdrängungsgeschichte. Während die Tätergeneration des »Dritten Reiches« die Verantwortung für Kriegsschuld und Völkermorde im Sumpf des Vergessens entsorgte, rebellierte ein Teil der Jugend dagegen, in spießiger Enge und moralischer Verlogenheit zu ersticken. Zugleich blickte der andere Teil nach vorn, angelockt von den attraktiven Wohlstandsversprechen des Konsumismus.
Mitten hinein in die unbewältigte Nazi-Vergangenheit, in die stalinismusblinde Studentenrevolution und die konsumfreudige Hurrastimmung der etablierten Mittelschicht traf Alexandra mit ihrer sanften Melancholie einen Ton jenseits aller Fronten. Er traf hinein ins Herz einer zerrissenen Zeit, ja er offenbarte diesen Riss und überwand ihn zugleich. Als die geborene Doris Treitz im Sommer 1969 im Alter von siebenundzwanzig Jahren mit ihrem Mercedes ein Halteschild überfuhr und in einen Lastwagen raste, stand dieser Ton noch eine Weile im Raum. Dann verhallte er peu à peu und ist heute verklungen.
»Zigeunerjunge, Zigeunerjunge,
wo bist du, wer kann es mir sagen?
Tam ta ta ta ta tam tam, ta tam tam ta tam,
doch es blieb alles leer,
und ich weinte so sehr.«
Ich zweifelte nicht, dass der Liedtext bereits auf dem Seziertisch irgendeiner ideologiekritischen Analyse gelandet und mit Sicherheit auf einen versteckten zigeunerfeindlichen Gehalt untersucht worden war. Ich wusste nur nicht, wann, wo und von wem. In solchen Situationen ist das World Wide Web eine echte Hilfe. Einer bewährten Faustregel folgend, welche Schlagworte in Artikeln anti-antiziganistischer Wissenschaftler mit hoher Wahrscheinlichkeit auftauchen, tippte ich außer Alexandra und Zigeunerjunge einige verbale Schlüsselreize in die Suchmaschine: Nationalsozialismus, Klischee, Vorurteil, Diskriminierung, Diffamierung, Vernichtung, rassistisch.
Ich wurde fündig. In dem Sonderheft Germanistische Beiträge, Band 22/I, Europa und seine Zigeuner – Literatur- und kulturgeschichtliche Studien, Universitätsverlag Sibiu/Hermannstadt 2007, war ein Beitrag mit dem Titel »Zur Romantisierung der Zigeuner« abgedruckt.
Darin ist zu erfahren, dass Alexandra die »Zigeuner« als Projektionsfläche für die »rückwärtsgewandten Sehnsüchte« des bürgerlichen Subjekts benutzt und »dass überkommene Klischees und Vorurteile bis heute weitreichende Konsequenzen für das Leben der als ›Zigeuner‹ bezeichneten Menschen haben«. Die Autorin Stefani Kugler ordnete den Schlager »Zigeunerjunge« ein in eine Diskriminierungsgeschichte, »die von gewaltsamen Sesshaftmachungsversuchen unter absolutistischen Regenten über steckbriefliche und kriminalpolizeiliche Fahndungen in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik bis zur rassischen Verfolgung und Vernichtung von über 500 000 Sinti und Roma im Nationalsozialismus reichte«. Nach 1945 zeugten Alexandras Fragen: »Wo bist Du, wer kann es mir sagen?«, von mangelnder Sensibilität gegenüber den »Zigeunern« und ihrer Geschichte und verrieten »eine gefährlich naive und unreflektierte Haltung den eigenen Imaginationen gegenüber«.
Das kann man so sehen. Aber man muss nicht. Ein gewogener Blick auf den »Zigeunerjungen«, ein Blick, der womöglich das aus Naivität erwachsende Gefahrenpotential für die Roma unterschätzt, könnte jedoch in Alexandras Lied etwas anderes erkennen: das Wachhalten eines Begehrens, eines Sehnens, einen Aufstand des Gemüts gegen sterbende Lebensträume. Natürlich geht es in dem Schlager nicht um real existierende Zigeuner. Der »Zigeunerjunge« ist eine Chiffre, die eine Sehnsucht nicht um ihrer Erfüllung willen, sondern um der Lebendigkeit des Begehrens willen wachhält. Deshalb bestätigt Alexandras Lied auch kein antiziganes Stereotyp. Es macht genau das Gegenteil. Es bricht den
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