Zikadenkönigin
Sonnenuntergänge, deren Strahlenblitze den Zenit berühren. Das genaue Gegenteil von unserem grünen in sich gekehrten Seattle; ein helleuchtendes Yang gegenüber dem trüben Yin der nieselregenverhangenen Pazifikküste. Die würzige, scharf nach wildem Beifuß und Pinien duftende Luft reinigte das Gehirn wie mit einem Luffahandschuh. Ich spürte sogleich, wie der Appetit zurückkehrte, und mit frischem Schwung schritt ich aus.
Mit verschiedenen Einheimischen sprach ich über ihren Mondial-Park. Die Bewohner Arizonas sind ein sensibles, ja sogar edles Volk, das zutiefst erfüllt ist von der überwältigenden, ehrfurchtgebietenden Schönheit seines Landes. Ihre Ansichten sind eigentlich ganz modern, trotz des hohen Bevölkerungsanteils an Pensionären – verschrobene, schrullige Relikte aus dem Industriezeitalter.
Seit der Trockenlegung des Lake Powell hat man auf dem Grund des ehemaligen Stausees Campingplätze, Sportstätten und in begrenztem Maße Wohnsiedlungen angelegt. Auf diese Weise wird eine Überbevölkerung des Cañon selbst verhindert, der aufgrund einer umsichtigen und klugen Planung langsam in seinen ursprünglichen naturbelassenen Zustand zurückkehrt.
Für Dr. Hillis' Geburtstagsfeier hatte die Firma Hillis einen modernen Rundbau am nördlichen Rand des Cañon gemietet. Diese gewaltige zweigeschossige Kuppel aus Zedernholz und Sandstein fügt sich unauffällig und äußerst geschmackvoll in die natürliche Landschaft ein. Von einer breiten Veranda aus überblickt man den Fluß. Hinter der Kuppel erstreckt sich ein großer, von weißstämmigen Pinien begrenzter Steingarten.
Befreit von den veralteten Dämmen aus dem zwanzigsten Jahrhundert, tobt der ungezähmte Colorado zwischen den Felswänden dahin, schäumend und tosend, Wirbel bildend und Gischt sprühend, Felsen und Baumstämme mit sich reißend, gleich einem rasenden Tiger. Während der folgenden Tage hatte ich sein Zischen und Brausen ständig im Ohr.
Dort, wo einmal der künstlich angelegte See gewesen war, hat der sinkende Wasserspiegel skurril anmutende Spuren hinterlassen, die dem Oberlauf des Colorado einen zusätzlichen Reiz verleihen. Grüne Flecken überziehen die Schiefer- und Sandsteinwände der Schlucht. Böschungen aus Anschwemmungen säumen die mutwilligen Flußwindungen, bewachsen von hochstämmigen Pappeln und dichtem Gestrüpp.
Auf der dem Fluß zugewandten Terrasse stöpselte ich meinen Codeschlüssel in das Haussystem ein und teilte meine Ankunft mit. Auf der Veranda saßen zwei alte Leute. Anhand meines erst kürzlich aktualisierten Codeschlüssels wollte ich sie identifizieren, doch rücksichtslos, wie diese Generation nun mal ist, hatten sie es versäumt, ihre Daten in das Haussystem einzuspeisen. Also blieben sie mir auch weiterhin fremd.
Mit einer gewissen Erleichterung sah ich, wie unsere alte Freundin, Mari Kuniyoshi, aus dem Haus trat, um mich zu begrüßen. Seit ihrer Rückkehr aus Osaka hatten wir getreulich miteinander korrespondiert; meistens ging es um ihr Modegeschäft und die neueste Entwicklung auf dem Gebiet der japanischen Gebrauchsgraphik.
Ich gestehe, daß ich nie verstanden habe, warum Mari auf so viele Männer eine fast magnetische Anziehungskraft ausübt. Mich interessiert sie lediglich als begabte Designerin, während ich ihre Romanzen sehr gefühllos finde.
Durch meinen Codeschlüssel identifizierte ich ihre Begleiterin: Claire Berger, Maris Produktionsingenieurin und Cheftechnikerin. Mari war nach der allerneuesten Mode gekleidet, dem gängigen Geschmack weit voraus. Sie trug eine am Hals hochgeschlossene, mit einem Stehbündchen versehene Jacke aus pfirsichfarbenem Satin, dazu einen knöchellangen, raffiniert eng geschnittenen Rock. Claire Berger ging in Expeditionshosen, einer sportlichen Baumwollbluse und Wanderstiefeln. Es war wieder mal typisch für Mari, daß sie diese schlaksige junge Frau als Kontrast zur eigenen Person benutzte.
Bald saßen wir drei unter einem Sonnenschirm und tranken ganz tugendhaft Fruchtsäfte. Der Blick über den Cañon war atemberaubend. Während wir Höflichkeiten austauschten, wartete ich darauf, daß Mari damit herausrückte, was ihr auf dem Herzen lag. Denn daß sie irgendeinen Kummer pflegte, hatte ich ihr gleich angemerkt.
Wie sich dann herausstellte, bildete Maris derzeitiger Freund, ein neunzehnjähriges Model und angehender Schauspieler, eine ständige Quelle für Reibereien. Denn unter den geladenen Gästen befand sich auch ein früherer Verehrer
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